Russland ist als Land mit einem hohen Grad häuslicher Gewalt bekannt. Mit der erfolgten Entkriminalisierung häuslicher Gewalt hat das russische Rechtssystem nun de facto eine wesentliche Schutzbarriere zwischen dem Angreifer und seinem Opfer beseitigt.
In Russland gibt es keine offizielle Statistik über Straftaten und Gewalt in Familien und das Krisenzentrum für Frauen und andere mit dem Thema befasste Organisationen haben große Schwierigkeiten, Daten zu sammeln. Die vom Ministerium für Innere Angelegenheiten zur Verfügung gestellten Daten über geschlechtsspezifische Gewalt können nur als Indiz dienen, da nur eine sehr geringe Anzahl der Opfer Anzeige erstattet.
Aber selbst das Ministerium für Innere Angelegenheiten hat offen eingeräumt, dass 25 Prozent der im Jahr 2014 in Russland registrierten Mordfälle innerhalb der Familie verübt worden sind. Für dasselbe Jahr wurden etwa 420 Straftaten gegen Familienangehörige registriert.
Die russische Regierung entkriminalisiert häusliche Gewalt
Seit fast 20 Jahren leisten Frauen-NGOs, Feministinnen und Aktivistinnen Lobbyarbeit für ein Gesetz über häusliche Gewalt, das besondere Maßnahmen vorsieht, um den Opfern zu helfen und sie zu schützen, z.B. durch Schutzanordnungen, wie sie in vielen entwickelten Ländern eingeführt wurden. Diese implizieren nämlich, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine misshandelte Frau in die Wohnung zurückkehrt, die sie mit einem gewalttätigen Ehemann teilt, sondern dass er es ist, der in Betracht ziehen sollte, auszuziehen.
Obwohl der Sieg so nah schien und der Gesetzesentwurf bereits dem Präsidenten vorgelegt und verbal bestätigt worden war, wurde ein Änderungsantrag in den Gesetzentwurf eingebracht. Inzwischen hat sich die Situation weiter verschlechtert.
Am Mittwoch, den 25. Januar 2017, hat die Staatsduma in zweiter Lesung einen Gesetzesentwurf zur Entkriminalisierung und Herabstufung häuslicher Gewalt zur Ordnungswidrigkeit gebilligt. Jelena Misulina, eine unermüdliche Kämpferin für traditionelle Familienwerte (sie ist stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses des Föderationsrates für konstitutionelle Gesetzgebung und Staatsbildung) hat ausgeführt, dass die Formulierung in diesem speziellen Fall die Form von Gewalt betraf, die zum ersten Mal ausgeübt wurde, sowie Gewalt, „die keinen ärztlichen Bericht erforderte, da sie keine Folgen für die Gesundheit hatte, etwa belanglose Familienstreitigkeiten mit minimalen Folgen“.
„Wenn er dich schlägt, heißt das, er liebt dich.“
Häusliche Gewalt ist in Russland fest verankert, und die russische Gesellschaft hat nach wie vor eine unklare Haltung zu diesem Problem. Die ältere Generation vertritt noch immer den bäuerlichen Standpunkt aus dem 19. Jahrhundert, „Wenn er dich schlägt, heißt das, er liebt dich.“, und ist der festen Meinung, dass egal welches Verbrechen in einer Familie geschieht, dies kein Verbrechen sein kann, sondern eine natürliche, rein familiäre Angelegenheit ist.
Die Generation der heute 30- bis 40-Jährigen kann sich noch gut an die späte Sowjetzeit mit gewalttätigen, betrunkenen Vätern erinnern, die ihre Kinder mit dem Gürtel schlugen, und die weit verbreitete Auffassung, „der Mann ist das Oberhaupt der Familie“. Später erlebten sie die Perestroika, die Zeit, in der „der Stärkere überlebte“ und Raufereien an der Tagesordnung waren.
Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre wuchs eine glückliche, „ungezüchtigte“ Generation nach und eine neue Erziehungsphilosophie setzte sich durch, die Liebe, statt Züchtigung beinhaltete. Der Anteil von Kindern, die mit Schlägen aufgewachsen sind, ist in dieser Generation deutlich geringer. Allerdings wäre es noch zu früh, zu behaupten, dass Fälle von Gewalt gegen Frauen in dieser Generation stark zurückgegangen seien.
Im vergangenen Sommer kamen in dem Flashmob #янебоюсьсказать (ich habe keine Angst, zu reden), der breite Beachtung gefunden hat, ein beispielloses Maß an sexueller Gewalt sowie die Toleranz der russischen Bevölkerung gegenüber Gewalt und der Hang zum Ausdruck, den männlichen Täter zu rechtfertigen: er kam müde von der Arbeit nach Hause; und das weibliche Opfer zu beschuldigen: sie war es, die ihn durch ihre Haltung oder ihr Auftreten provoziert hat.
Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt, um eben diese zu verringern?
Um den Gesetzentwurf zur Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt zu rechtfertigen, hat der Sprecher der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, die Umfrageergebnisse angeführt, nach denen der Großteil der russischen Bevölkerung diese Formulierung unterstützen würde und der Ansicht sei, durch die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt würde die Regierung dazu beitragen, die Familien zu stärken.
Das VTsIOM, das führende russische Meinungsforschungszentrum (dem oft eine Verzerrung zugunsten der Regierung und fehlerhafte Methoden vorgeworfen werden, die das Ziel hätten, die „gewünschten“ Ergebnisse zu liefern) hat folgende Umfrageergebnisse veröffentlicht: Die Mehrzahl der Russen verurteilt häusliche Gewalt, unterstützt aber die Gesetzesinitiative, die Strafen für Fälle von erstmaliger Gewalt zu mindern. Der Großteil der Befragten ist tatsächlich der Ansicht, dass diese Formulierung dazu beitragen wird, die Anzahl der Fälle von häuslicher Gewalt zu verringern.
Es bleibt ein völliges Rätsel, wie die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt zu einer Stärkung von Familien und zur Abnahme von häusliche Gewalt führen soll.
Frauen bleiben sich selbst überlassen
Die Mehrzahl der Anwält/innen und Expert/innen für häusliche Gewalt ist der Ansicht, dass diese Formulierung genau das Gegenteil bewirken wird: Immer weniger Frauen werden Gewalttaten der Polizei melden, die solche Anzeigen bereits heute schon sehr widerstrebend aufnimmt. Währenddessen gehen die potentiellen Täter straffrei aus. Vorher mussten sie zumindest befürchten, dass der entsprechende Artikel des Strafgesetzbuches angewendet werden würde, was somit eine wichtige Abschreckung darstellte.
Da es kein System zur Prävention von häuslicher Gewalt gibt und angesichts der äußerst kleinen Zahl von Einrichtungen, in denen Frauen mit Kindern vorübergehend Zuflucht suchen können, hat das russische Rechtssystem de facto eine wesentliche Schutzbarriere zwischen dem Angreifer und seinem Opfer beseitigt.
Alles, was Frauen in dieser Situation bleibt, ist die Hoffnung, von einer kleinen Anzahl von NGOs - die ihrerseits derzeit verfolgt werden, weil sie ausländische Finanzierungen erhalten - oder von ihren Angehörigen Hilfe zu erhalten oder sich selbst zu helfen.
Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf www.4freerussia.org.