Warum die 1968er-Bewegung es nicht schaffte, sich mit den Arbeitskämpfen von Gastarbeiter*innen zu solidarisieren.
Die 1968er begegneten mir erstmals nicht im Geschichtsunterricht, sondern als Aufregerthema Nummer Eins meines ehemaligen Englischlehrers. Der fand es komplett verkehrt, dass in meinem recht konservativen Gymnasium im Jahr 2005 eine Diskussionsveranstaltung über die Aktualität Rudi Dutschkes stattfinden sollte. Mein Englischlehrer sah darin den Versuch einer politischen Einflussnahme auf die Schüler*innen. Der damalige Direktor der Schule wahrscheinlich auch, denn er entschied, dass die Veranstaltung nicht in den Räumen des Askanischen Gymnasiums stattfinden durfte. Dort, wo nicht nur ich zur Schule ging, sondern auch Rudi Dutschke sein Abitur abgelegt hatte.
Die "Massen", die die 1968er gerne mobilisieren wollten, waren tatsächlich selten im marxistischen Lesekreis zu finden
Vorauszusetzen, dass jemand unmündig ist, sich „beeinflussen“ lässt und keine eigenständigen Entscheidungen treffen kann, ist degradierend, es macht Menschen von politischen Subjekten zu Objekten. Das Paternalistische, das diesem Denken innewohnt, lässt sich nicht nur an meiner früheren Schule finden, sondern zieht sich auch durch die gesamte Geschichte sozialer Bewegungen. Eine Aussage, die das auf den Punkt bringt, lautet: „Die Massen mobilisieren.“ Die Student*innen der 68er-Bewegung fühlten sich dazu berufen, das revolutionäre Gedankengut für diese Mobilisierung zu liefern, die Arbeiter*innen sollten ihnen folgen.
Was stimmt: Die „Massen“, die man in Bewegung setzen wollte, waren tatsächlich seltener in marxistischen Lesekreisen der 68er zu finden. Natürlich gab es Ausnahmen wie Bommi Baumann, von Beruf Betonbauer, der sich in der 68er-Bewegung politisierte und später in der Westberliner linken Szene radikalisierte. Dass es bei solchen Ausnahmen blieb, lag aber nicht daran, dass Arbeiter*innen keine revolutionären Überlegungen anstellten, sondern dass sich ihre Lebensrealitäten von denen der 68er-Aktivist*innen deutlich unterschieden. Das gilt vor allem für den Teil der Arbeiter*innenklasse, der nicht weiß ist, und dieser Teil war besonders in Westberlin ziemlich groß.
In den 1960ern benötigte die Bundesrepublik Arbeitskräfte und warb Gastarbeiter*innen aus u. a. Spanien, Italien, Jugoslawien, Marokko und der Türkei an. Deren Priorität war es, ein sicheres Einkommen zu haben, um Geld nach Hause schicken zu können. Überschneidungen zwischen migrantischen Fließbandarbeiter*innen und Studierenden der 68er-Bewegung gab es selten, und obwohl die Arbeitsbedingungen Grund genug gewesen wären, sich den Protesten anzuschließen, taten es die Gastarbeiter*innen nicht. Auch die Wohnverhältnisse, in denen sie leben mussten, waren nicht besser: Im Westen waren es Altberliner Mietskasernen, oft ohne eigene Toiletten, die sich in einem desolaten, sanierungsbedürftigen Zustand befanden – und genau aus diesem Grund an Gastarbeiter*innen vermietet wurden, sofern diese nicht ohnehin in firmeneigenen Wohnheimen in Mehrbettzimmern schliefen. Ein Großteil der Gastarbeiter*innen arrangierte sich mit diesen Zuständen, weil ihnen damals nicht klar war, dass sie nicht nur „Gäste“ bleiben würden.
Die widrigen Arbeitsbedingungen nahmen sie zunächst in Kauf: Überstunden, Schicht- und Akkordarbeit hatten dafür gesorgt, dass Lohnarbeit zum Lebensmittelpunkt wurde. Das lag auch daran, dass die Wohnheime, in denen die Gastarbeiter*innen untergebracht waren, häufig in der Nähe der Betriebe lagen, sodass Leben und Arbeiten eng miteinander verknüpft waren. Dadurch, dass sie oft Tätigkeiten ausführten, für die man keine Ausbildung brauchte, befanden sie sich in der Betriebshierarchie weiter unten, was den weißen deutschen Kolleg*innen den Aufstieg in die nächsthöhere Ebene leichter machte. Sie standen aber genau aus diesem Grund auch unter besonderer Beobachtung und arbeiteten deshalb schneller, was wiederum den weißen deutschen Kolleg*innen Sorge bereitete, weil sie befürchteten, dass der Akkordsatz erhöht und von ihnen ebenfalls eine höhere Leistung erwartet werden würde.
Die Gewerkschaften sahen Gastarbeiter*innen nicht als ihre Zielgruppe an
Natürlich gab es auch organisierte Arbeitsmigrant*innen. Mitte der Sechzigerjahre wurden die ersten türkischen Arbeiter*innen-vereine gegründet, weitere Vereine kamen hinzu. Diese Gruppen wurden jedoch eher von der aktuellen Politik der jeweiligen Herkunftsländer beeinflusst als von jener, die in Deutschland stattfand. Selbsthilfe und der Austausch mit Gleichgesinnten standen im Mittelpunkt der Arbeit dieser Vereine.
Die Gewerkschaften sahen Gastarbeiter*innen anfangs nicht als ihre originäre Zielgruppe an, als es darum ging, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren – obwohl diese in den Fabriken eine tragende Rolle spielten. Das prominenteste Beispiel dafür ist der Kölner Ford-Streik 1973. Ausgelöst wurde er, weil sich die Gastarbeiter*innen, die ein Drittel der dortigen Beschäftigten ausmachten, gegen die niedrige und ungleiche Entlohnung auflehnten. Der Stundenlohn für ein*e Arbeiter*in an der Bandstraße betrug für Gastarbeiter*innen zwischen 7,15 und 8,24 Mark, weiße deutsche Facharbeiter*innen bekamen zwischen 8,98 und 10,59 Mark. Hinzu trieb die fristlose Kündigung von dreihundert Kolleg*innen die Arbeiter*innen auf die Barrikaden.
Am 24. August versammelten sich einige Tausend Gastarbeiter*innen des Kölner Ford-Werks auf dem Gelände und verlangten die Rücknahme der Entlassungen, eine Mark mehr Lohn pro Stunde für alle und die Herabsetzung der Bandgeschwindigkeit. Der Betriebsrat führte in den darauffolgenden Tagen Verhandlungen mit der Geschäftsleitung, allerdings wurde dieser von den Arbeiter*innen nicht als legitime Vertretung angesehen. Schließlich wurde eine Lohnerhöhung verabredet, die deutschen Arbeiter*innen waren damit zufrieden, die Gastarbeiter*innen streikten weiter. Diese Spaltung trieb die deutschen Arbeiter*innen auf die Seite der Geschäftsleitung. Deshalb wurde von einschlägigen Medien der Ford-Streik als „Machtübernahme der Gastarbeiter“ betitelt. Nach einer Woche beendete die Geschäftsleitung den Streik. Über hundert fristlose und sechshundert „freiwillige“ Kündigungen von Gastarbeiter*innen folgten.
Aber: Nicht alle BIPoC (Black, Indigenous und People of Color) waren Arbeiter*innen. Es gab auch BIPoC Studierende und Akademiker*innen, mit denen sich die 68er-Bewegung solidarisierte – immerhin war das revolutionäre Projekt international angelegt. Oft waren es privilegierte Student*innen aus dem globalen Süden, die die Möglichkeit hatten, nach Europa zu reisen, und die – anders als die klassischen Arbeitsmigrant*innen bzw. Gastarbeiter*innen – auch finanziell abgesichert waren. Weil sie über soziales Kapital verfügten, eine universitäre Ausbildung hatten oder diese gerade absolvierten, wurden sie als handelnde Subjekte wahrgenommen, nicht als die „Masse, die man mobilisieren muss“.
Dass man innerhalb von Solidaritätsaktionen und -bekundungen unter Umständen Dominanzverhältnisse reproduzierte, wurde nicht thematisiert. Genauso wenig wie die Problematik, sich bestimmte Codes der Arbeiter*innenklasse anzueignen und zu übernehmen. In den aufgrund ihres Dogmatismus eher unbeliebten K-Gruppen, also sehr hierarchisch strukturierten kommunistischen Vereinigungen, war ein gewisser „Proletkult“ gang und gäbe. Dabei versuchten die Mitglieder, die Theorielastigkeit ihres Aktivismus abzulegen und sich stärker auf die Praxis zu konzentrieren. Allerdings ging damit einher, dass man die eigene intellektuelle Herkunft verleugnete – ungefähr so, wie heute Angehörige der Mittelklasse nicht über Geld reden oder aber einfach unter den Tisch fallen lassen, dass sie jederzeit auf ein bürgerliches Kissen fallen können. Eines, das die Arbeiter*innen nicht haben.