Antidiskriminierungsrecht mit Crenshaw – aber ohne Rasse?

Diejenigen, die jeden Bezug auf das Konzept „Rasse“[1] im deutschen Kontext ablehnen, wären gut beraten, sich grundlegender mit den tieferen Bedeutungen von „Rasse“ im globalen Sinne und „Rasse“ als ein Konzept im deutschen Kontext zu beschäftigen.

Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von Kimberlé W. Crenshaws bahnbrechendem Artikel „Race, Reform, and Retrenchment: Transformation and Legitimation in Antidiscrimination Law“ (1988) wirken seine Inhalte bis heute, gerade auch in Deutschland, unvermindert nach. In diesem Artikel, der zu den zehn bedeutendsten Publikationen gehört, die das Rechtsdenken in den USA maßgeblich beeinflusst haben, beschreibt Crenshaw in sehr überzeugender Weise die ungeklärten Mehrdeutigkeiten eines spezifischen Antidiskriminierungsrechts. Sie kommt zu dem Schluss, dass weder die neo-konservative noch die liberale Vorstellung dessen, was unter Antidiskriminierungsrecht zu verstehen sei, angemessen und richtig und daher für die Realitäten unterdrückter Gruppen – in ihrem Fall die Gruppe der Schwarzen – nicht wirklich sinnvoll sei. Während die neo-konservative Ideologie der Farbenblindheit schwelende rassische Ungleichheiten verschleiere, versäumten es die sogenannten Crits, also die Anhänger der Critical Legal Theory, die rechtliche Handlungsmacht von Minderheiten anzuerkennen. Obwohl Crenshaw generell die Behauptung der Crits teilt, dass das Recht seinem Wesen nach Mittel zur Vorherrschaft seien, setzt sie sich für die emanzipatorische und pragmatische Durchsetzung von Rechtsansprüchen ein.

In ihrem nächsten Artikel „Demarginalization“ (1989) vertieft Crenshaw ihre Kritik an der Antidiskriminierungsdogmatik und verknüpft sie mit einer Schwarzen feministischen Perspektive. In diesem häufig zitierten Artikel kritisiert sie einerseits die Rechtsprechung aufgrund ihrer eindimensionalen Konzeption des Antidiskriminierungsrechts in besonderem Maße, aber auch weiße Feminist* innen sowie die männlich geprägte, antirassistische Identitätspolitik. Auch hier ist es Crenshaws zentrales Anliegen, ein Konzept für ein Antidiskriminierungsrecht zu entwickeln, das empirisch und historisch informiert ist, um gegen die symbolische und materielle Diskriminierung von Schwarzen, insbesondere von Schwarzen Frauen*, zu mobilisieren. In beiden Artikeln zeigt uns Crenshaw, dass es unbedingt notwendig ist, das Antidiskriminierungsrecht als Ergebnis und Teil einer langen Geschichte intersektionaler Unterdrückung und Befreiung zu verstehen.

Es ist diese kritische Beschäftigung mit konservativer und liberaler Politik einerseits und die kontextuelle Verflechtung von Recht und Macht andererseits, die für Wissenschaftler*innen der Critical Race Theory in Europa konstitutiv gewesen sind. Meine von Crenshaw inspirierte vergleichende Forschungsansätze und die zahlreichen Einblicke in die Tätigkeit von Aktivist*innen in Deutschland und anderswo haben meine Beobachtungen zu einer spezifisch politisch-rechtlichen Ideologie geformt, die ich als „Deutschen Exzeptionalismus“ bezeichne. Diese Ideologie besteht aus einer Reihe von Ideen und Praktiken, die in der Zeit nach dem Holocaust verortet sind und die den deutschen Kontext als einen Ausnahmekontext bezüglich des Konzepts der Rasse[1] konstruieren, in dem kein Platz ist für irgendeinen Bezug zu Rasse. „Aufgrund unserer Vergangenheit können wir den Begriff Rasse nicht verwenden …“, lautet das Argument. Für Antidiskriminierungsrechtler* innen, denen bewusst ist, dass Rasse im deutschen, europäischen und internationalen Recht allgegenwärtig ist, ist die Ideologie des „Deutschen Exzeptionalismus“ hochgradig problematisch, wenn nicht gar kontraproduktiv.

Während die Notwendigkeit bestand, die dogmatische Bedeutung von Rasse im deutschen Antidiskriminierungsrecht herauszuarbeiten, entstand um 2010 ein echter Anti-Rasse-Diskurs. Die vom Deutschen Institut für Menschenrechte eingeleitete und mit großem Engagement getragene Kampagne hat das Ziel, den Begriff der Rasse aus dem Grundgesetz und anderen relevanten Rechtsnormen zu entfernen. Auch einige Minderheiten- und Antirassismus- Organisationen unterstützen diese Anti-Rasse-Position. Die Ähnlichkeiten zwischen den diskursiven und dogmatischen Kontroversen in den USA und Deutschland sind verblüffend. Wie die farbenblinden Konservativen bei Crenshaw, die davon überzeugt waren, dass der Rassismus überwunden ist, gibt es auch in Deutschland Rechtswissenschaftler* innen, Richter*innen und Anwält*innen, die der Ansicht sind, Rassismus gehöre der Vergangenheit an: „Rassismus ist das, was von den Nationalsozialisten praktiziert wurde.“ Daher wird beispielsweise der Absatz zum Diskriminierungsverbot in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes in der Regel so interpretiert, dass dadurch „eine dem Nationalsozialismus vergleichbare Politik verhindert werden soll“, oder kurzum: „Nie wieder!“ Es ist daher kein Zufall, dass es bis heute nur eine einzige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt, die sich auf das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes bezieht. Diese Entscheidung stammt aus dem Jahr 1968 und betrifft die verfassungswidrige Ausbürgerung eines jüdischen deutschen Staatsbürgers. Sich für ein sozialwissenschaftlich fundiertes Verständnis von Rasse als Rechtsbegriff und struktureller Diskriminierung innerhalb der aktuellen deutschen Verfassungsdogmatik einzusetzen, erhält für rassismuskritische Wissenschaftler* innen an dieser Stelle zentrale Bedeutung. Rechtliche Herausforderungen, wie beispielsweise Racial Profiling, indirekte oder mittelbare Diskriminierung und positive Maßnahmen basieren auf der Rechtskategorie Rasse. Diese Aspekte sind heute schon fester Bestandteil der völker- und europarechtlichen Antidiskriminierungsdogmatik und machen die Bedeutung von Rasse für die Verfassungsdogmatik sichtbar. Nachdem der Begriff Rasse über 70 Jahre ein Schattendasein führte, ist es an der Zeit, über ihn zu sprechen, statt ihn abzuschaffen.

Diese vordringliche und kritische Intervention für eine emanzipatorische Antidiskriminierungsdogmatik der Rasse wird jedoch von einigen grünen und linken Politiker* innen, Institutionen, (feministischen) Rechtswissenschaftler* innen und Antirassismus-Aktivist*innen sabotiert. Ausgehend von dieser Anti-Rasse-Position darf es keinen einzigen Verweis mehr auf Rasse im Gesetz geben, weil „es keine biologischen Rassen gibt“. Wie die von Crenshaw beschriebenen Liberalen, die Vorbehalte gegen die Anwendung des Antidiskriminierungsrechts hatten, beobachten wir heute, dass sich die (überwiegend „liberale“) Anti-Rasse-Position gegen die Verwendung von Rasse sträubt. In beiden Kontexten scheint es ein strukturelles Versagen zu geben, wenn es darum geht, die vielschichtige Bedeutung des Rechtsbegriffs der Rasse im Kontext des Antidiskriminierungsrechts zu erkennen. Im deutschen Kontext kommen alle zu demselben Ergebnis: Wir brauchen den Begriff der Rasse nicht mehr. Für einige gehört Rasse der Vergangenheit an; andere sind der Auffassung, Rasse dürfe in Deutschland keine Zukunft mehr haben. Eine sorgfältige Lesart von Crenshaws Arbeiten und deren Übersetzung in den deutschen und europäischen Kontext ermöglichen uns, diesen ambivalenten, dürftigen und kontraproduktiven Ansatz in Bezug auf ein „Antidiskriminierungsrecht ohne Rasse“ zu dekonstruieren.

Diejenigen, die jeden Bezug auf das Konzept „Rasse“ im deutschen Kontext ablehnen, wären gut beraten, sich grundlegender mit den tieferen Bedeutungen von „Rasse“ im globalen Sinne und „Rasse“ als ein Konzept im deutschen Kontext zu beschäftigen. Auch für ein angemessenes Verständnis von Intersektionalität ist dies eine grundlegende Voraussetzung, denn Rasse existiert nicht ohne Intersektionalität und Intersektionalität nicht ohne Rasse. Ein kurzer Blick auf die intellektuelle Entwicklung Crenshaws ist im Hinblick auf die „konstitutive Rolle von Rasse für Intersektionalität“ (Crenshaw, Post-Script, 224) aufschlussreich: Nicht nur ist sie Mitbegründerin der Critical Race Theory; sie ist auch eine der Mitschöpfer*innen der Intersektionalitätskritik. Daher sollte wissenschaftliche Forschung zu Rassismus und Intersektionalität in Europa künftig versuchen, ein kontextuelles Verständnis von Rasse im deutschen Kontext zu entwickeln. Wie Geschlecht, Klasse, Religion, Sexualität, Behinderung und Alter ist auch Rasse eine soziale Kategorie, die Teil einer Konzeption von Intersektionalität sein muss. Selbst wenn „Rasse“ sicherlich konstitutiv für Rassismus ist, impliziert nicht jeder Bezug auf Rasse Rassismus, zum Beispiel emanzipatorische Rasseidentität wie das Schwarzsein. Daher sind sämtliche Arbeiten zu Intersektionalität und Rassismus – und auch zu Antirassismus – in Deutschland ohne ein grundlegendes Verständnis von Rasse als soziales (und juristisches) Konstrukt – zum Scheitern verurteilt. Wenn Geschlecht beispielsweise eine gültige (juristische) Analysekategorie ist, sollte das auch für Rasse gelten. Das ist – und davon bin ich überzeugt und beziehe mich dabei auf die zahlreichen Veranstaltungen zur Critical Race Theory, die Crenshaw und ich seit 2010 bis heute gemeinsam mit anderen durchgeführt haben – Crenshaws Botschaft an ihre weißen und/ oder deutschen feministischen Mitstreiter*innen.


[1] Zur Schreibpolitik zum Begriff der Rasse: Gerade in deutschen Texten verfolge
ich eine klare und konsistente Linie, das heißt, dass im antidiskriminierungsrechtlichen
Sinne der Substanz meiner Kritik folgend keine sprachpolitischen
Ausnahmen für Rasse gemacht werden, also Rasse auch nicht
kursiv gesetzt wird. Es werden weiterhin auch keine Anführungszeichen gesetzt,
es sei denn der biologistische bzw. rassistische Begriff wird benannt.“