Ob in Oslo, Paris oder Christchurch, auf dem Berliner Weihnachtsmarkt oder in Halle: Die Täter bei terroristischen Anschlägen sind fast immer männlichen Geschlechts. Früh untersucht hat dies der Freiburger Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Sein Mammutwerk “Männerphantasien” ist ein Klassiker der Gender-Literatur. Von den beiden 1977 und 1978 erschienenen Bänden wurden insgesamt mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Nach mehr als vierzig Jahren hat der Berliner Verlag Matthes und Seitz jetzt eine fast 1300 Seiten umfassende Neuauflage herausgebracht, ergänzt um ein umfangreiches Nachwort des Autors.
Gestützt auf historische Selbstzeugnisse von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg analysiert Theweleit den zerstörerischen Charakter männlicher Gewalt und deren Ursachen. Das Interesse an seinen Thesen ist vielleicht größer denn je, denn sie bieten Erklärungen dafür, warum Männer rechtsradikal sind oder werden.
Herr Theweleit, Sie sind 1942 geboren, waren also 35 Jahre alt, als der erste Band der „Männerphantasien” herauskam. Mehr als vier Jahrzehnte später ist nun eine Neuauflage erschienen. Überrascht Sie die anhaltende Wirkung Ihrer Recherchen?
Theweleit: Nein. Das Verfahren des „Tötens aus Lust“, das ich in dem Buch am Beispiel als spezifisch Männliches beschreibe, hat ja nicht nachgelassen. Es nimmt eher zu in der heutigen Welt, jeden Tag gibt es frische Belege.
„Männerphantasien, das sind Vorstellungen von dem, was Männer nicht wissen durften: Körperwünsche, Energien und Sehnsüchte wurden unterdrückt und abgetötet, um wieder geboren zu werden im Kampf für Größe und Vaterland”, heißt es im Buch. Was war Ihr Forschungsansatz?
Theweleit: Es gab eine Menge Arbeiten zum deutschen Faschismus, die ideologiekritisch ausgerichtet waren. Sie wollten den Nationalsozialisten und ihren Vorläufern in erster Linie so etwas wie fundamentale Dummheit beweisen. „Blut und Boden“-Zeugs lächerlich zu machen, ist allerdings sehr einfach. Es führt jedoch keineswegs zu irgendwelchen Einsichten dazu, wie diese „blöden Nazis mit ihrem Oberdummkopf Hitler“ es denn geschafft hatten, so viel Macht und Attraktion zu entwickeln, dass sie beinahe ganz Europa militärisch-terroristisch in die Tasche steckten. Ich wollte dagegen ein Buch schreiben, in dem man über tatsächliche Nazis tatsächlich etwas erfährt. Das geht nur, indem man erstmal zur Kenntnis nimmt, was sie überhaupt sagten beziehungsweise sagen. Das Verfahren, das ich dabei anwandte, wurde später unter dem Terminus „Close Reading“ bekannt: genau hinsehen, genau hineinhören ins „Material“, genau recherchieren und nicht zu allem sofort eine Meinung haben. Mit Meinungen entdeckt man nichts.
Sie haben mit dem Thema promoviert, Spiegel-Chef Rudolf Augstein lobte Ihr Buch damals in einer seitenlangen Besprechung. Sie galten aber auch als eigenwilliger Geist, mit Strahlkraft vor allem in die Kulturwissenschaften. Eine Hochschulkarriere ergab sich aus der Doktorarbeit zunächst nicht. Die Universität Freiburg wollte Sie wegen Ihrer „ungezügelten Intelligenz” nicht mal ein Proseminar abhalten lassen. Warum gab es diese Widerstände? Wegen des „lässigen” und „unakademischen” Stils, wie Sie im aktuellen Nachwort schreiben?
Theweleit: „Man“ (und es waren in der Tat Professoren-Männer) wollte mich am Deutschen Seminar der Uni Freiburg nicht, weil diese mich zu gut kannten und fürchteten: als Aktivisten des Freiburger SDS, der sie oft genug in ihren Lehrveranstaltungen attackiert und auch bloßgestellt hatte. Und der sollte nun unter die Kollegenschaft? Bewahre! Ich habe das sogar verstanden.
1998 wurden sie dann schließlich doch noch Professor, an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Was hatte sich geändert?
Theweleit: Erstens waren das andere Menschen, eben Künstler - was Philologen in der Regel nicht sind. Zweitens hatte ich denen nichts getan. Im Gegenteil, meine folgenden Bücher, Buch der Könige 1, 2x+2y hatten sich mit Produktionsweisen der Kunstherstellung befasst. Besonders mit dem Umstand, wie eine bestimmte Sorte Künstler, die ich unter „Orpheische Produktion“ zusammenfasste, die Körperlichkeit ihrer Frauen in ihre Werke „einarbeitet“. Und dies nicht nur am Beispiel literarischer, sondern auch „bildender“ oder musischer Künstler: Andy Warhol, Elvis Presley. Das hatten Leute aus der Karlsruher Akademie gelesen, fanden es interessant und fragten, ob ich Interesse an einer Professur bei Ihnen hätte. Aus der Vertretung, die ich zunächst zusagte, wurde dann eine feste Stelle. Ein weiterer Grund für mich war der Kontakt zu den Kunststudenten. Ich lerne immer gern von Jüngeren.
“Blut und Boden-Zeugs lächerlich zu machen ist sehr einfach”
Wie viele in Ihrer Generation waren Sie stark von der Psychoanalyse geprägt. Im Kern stützen sich die „Männerphantasien" auf persönliche Dokumente der Freikorps: deutsche Soldaten, die 1918 enttäuscht von der Front zurückkehrten, die Novemberrevolution niederschlugen, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordeten und später eine verlässliche Stütze der Nationalsozialisten bildeten. Auf insgesamt 1150 Seiten legen Briefe, Biografien und literarische Spuren die gewalttätigen, sexuell aufgeladenen Phantasien dieser Männer über Frauen und weibliche Körper offen.
Theweleit: Psychoanalyse, das muss man präzisieren. Mit den Freudschen Begriffen wie Ich, Es und Über-Ich kommt man bei diesen Männern nicht weit. Sie funktionieren anders. Einen Zugang zu ihren Gefühlen, die sie selber breit darlegen in ihren Schriften, bekam ich über Weiterentwicklungen der Forschung, die in der Psychoanalyse von Kleinkindern und Adoleszenten gemacht wurden - überwiegend von Frauen, von Melanie Klein, Margaret Mahler und anderen. Dort erscheint der Begriff des „Fragmentkörpers“; psychische Mechanismen wie „Entdifferenzierung“ und „Entlebendigung“ tauchen auf und der Terminus „Erhaltungsmechanismen“ für eigene Gewaltaktionen. Im Innern der meisten Gewalttäter herrschen diffuse Ängste. Mit diesen Termini kam ich in Berührung über meine Frau, die seit 1970 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Freiburg als klinische Psychologin angestellt war. Ich stellte erstaunt fest, dass viele dieser neuen Begriffe die „zerstörte Körperlichkeit“ der Figur, die ich dann den „soldatischen Mann“ nannte, sehr viel genauer verständlich und damit beschreibbar machten als alles, was aus traditioneller Psychoanalyse und aus der Politikwissenschaft gekommen war.
Für die Neuauflage wurden weitere 120 Seiten ergänzt, Sie haben ein ausführliches Nachwort geschrieben. Welche Aktualität haben Ihre Erkenntnisse?
Theweleit: 2015 gab es ja schon eine Art Erweiterungsband der Männerphantasien: Das Lachen der Täter, wo ich auf Anders Breivik eingehe, auf mordende Soldaten und Kindersoldaten in Zentralafrika, auf den Massenmord an angeblichen Kommunisten in Indonesien Mitte der 1960er Jahre, auf die deutsche SS, auf Gewalttäter des sogenannten „Islamischen Staates“ und auf viele weitere. Solche fortlaufende Aktualität bestimmter männlicher Gewalthandlungen weltweit stützte die Erkenntnisse von Männerphantasien. Das neue Nachwort jetzt bezieht jüngste Fälle mit ein, vom Attentäter im Münchner Einkaufszentrum über die amerikanischen Alt-Right-Killer bis zum neuseeländischen Massenmörder Brenton Tarrant. Der Mörder von Halle, der vorhatte, in der Synagoge dort ein Massaker anzurichten, ist noch nicht drin. An Aktualität ist leider kein Mangel.
Sie diagnostizieren eine Unfähigkeit zu menschlichen Beziehungen, ein aggressionsgeladenes „Inneres” und einen durch militärischen Drill ausgeformten „Körperpanzer”. Ist Männlichkeit per se gefährlich, destruktiv oder gar “toxisch“, wie aus feministischer Perspektive neuerdings behauptet wird?
Theweleit: Bestimmte Sorten „Männlichkeit“ sind per se gefährlich. Diese Gefährlichkeit wird aber erworben; Körper werden zugerichtet, werden übel zugerichtet und werden, wenn sie keine mildernde Hilfe erfahren: lebende Bomben, aufs Töten ausgerichtet, das als lustvoll erlebt wird. „Toxisch“ klingt demgegenüber so, als wäre dies eine Eigenschaft, die Männerkörper von Geburt an mitbringen. „Toxisch“ ist ein Kampfbegriff, vergleichbar der Formel „kulturmarxistisch-feministisch verseucht“ oder „versifft“, den Anders Breivik und andere für Sozialdemokratinnen, Grüne oder Linke verwenden.
Die Forschung über die Ursachen männlicher Aggression ist immer noch lückenhaft. Erst recht gilt das für die Gewalt, die Männer nicht als Täter ausüben, sondern als Opfer selbst erfahren. Einzelne Wissenschaftler haben darüber geschrieben, stoßen aber bei Anträgen auf finanzielle Unterstützung oft auf Widerstand. Das Thema ist ein geschlechterpolitisches Minenfeld und ein Eingangstor für selbsternannte Männerrechtler. Was halten Sie von den sogenannten Maskulinisten?
Theweleit: Ich kenne diese Leute kaum. Dass es eine Tendenz unter „Männerrechtlern“ gibt, alle Schuld für angebliche oder wirkliche Benachteiligungen, die sie im Leben erfahren, Frauen zuzuschieben, ist mir bekannt. Mordlust geht daraus noch nicht hervor. Insofern sehe ich hier kein „geschlechterpolitisches Minenfeld“: Im Minenfeld kann nicht mehr geredet werden.
“Wirklicher Rechtsextremismus beginnt für mich, wo der Tötungswille das Handeln oder Reden bestimmt”
Frauen gehören im Denken der Männer, die Sie beschreiben, prinzipiell „nach unten”, werden abgewertet oder gar gehasst. Die Forderung nach politischer „Gleichstellung" der Geschlechter kann in diesem Weltbild nur verstören und irritieren. Ist Antifeminismus stets klar dem rechtem Spektrum zuzuordnen?
Theweleit: Der Typus, den ich beschreibe - und zwar aus seinen eigenen Äußerungen heraus beschreibe - erträgt alle Verhältnisse um ihn herum nur, wenn sie hierarchisch angeordnet sind. Darin gehören Frauen notwendig „nach unten“; zumindest weiter nach unten, als er selbst sich einordnet. Der Gedanke, dass es fundamentale Gleichheit geben könnte unter Menschen, bedroht ihn körperlich; „bringt ihn um“ und so muss er sich wehren. Nazis handeln immer aus notwendiger „Gegenwehr.“ Was sie bedroht, muss getötet werden; die Welt muss so angeordnet sein, dass alle wissen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist: unter ihnen. Das nennen sie die „natürliche Ordnung“ der Dinge. Diese Haltung kann auch in anderen als dem rechten Spektrum gefunden werden. Dort aber ist sie ein Strukturmerkmal, das nie fehlt.
Weit mehr Männer als Frauen wählen die AfD, auch in der Neonazi-Szene sind sie überdurchschnittlich vertreten. Sind rechte Bewegungen ein Männerphänomen?
Theweleit: „Rechte Bewegungen“ differenziert nicht genug. Es gibt viele Frauen überall auf der Welt, die eher zur politischen Rechten neigen: Sie bezeichnen sich als „konservativ“, wählen rechte Parteien und organisieren sich in Tea Parties oder Ähnlichem. Es gibt Untersuchungen unter streng muslimischen Frauen, die belegen, dass Etliche von ihnen der familiären, sexuellen und rechtlichen Unterordnung, die sie in ihren manndominierten Gesellschaften erfahren, im Prinzip zustimmen. Doch sie sind damit noch keine „rechte Bewegung“, sind nicht notwendig gewalttätig. Rechte Bewegungen, die man so nennen kann, zielen auf die Auslöschung des Gegners. Der wirkliche Rechtsextremismus beginnt für mich da, wo der Tötungswille das Handeln oder Reden bestimmt. Das ist der Point of no return. Wie dieser Tötungswille jeweils begründet wird, ist ziemlich egal: Breivik mordet als „Christ“, die IS-Leute für „Allah“, die Nazis im Auftrag „höherer Rasse“, die Alt-Rights, um dem „Genozid an den Weißen“ vorzubeugen und so weiter. Begründungen sind beliebig aus dem Hut zu zaubern, sind aufklebbare Ideologien. Faschismus ist aber keine Ideologie, Faschismus ist eine Art und Weise, die Realität herzustellen. Eine zerstörerische Art, die man argumentierend nicht widerlegen kann.
Ein wichtiger Impuls für Ihre Arbeit war die einst nicht sehr weit reichende Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Die Rolle der Wehrmacht, der „ganz normalen Soldaten”, wurde kaum diskutiert. Sind die Psychogramme der deutschen Freikorps übertragbar auf das Militär allgemein? Hatten zum Beispiel auch die Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte oder der Roten Armee „Männerphantasien?"
Theweleit: Etliche von ihnen, ja, sicher. Im Falle der US-Marines hat der Regisseur Stanley Kubrick das gezeigt mit dem Film Full Metal Jacket. Dessen erster Teil ist wie eine Verfilmung von Männerphantasien.
Danke für das Gespräch.
Klaus Theweleit: Männerphantasien. Verlag Matthes und Seitz, Berlin 2019. 1270 Seiten, 42 Euro.