"Wir müssen zeigen, wie stark wir sind"

Woran merken Menschen, dass Demokratie Feminismus braucht? Was wünschen sie sich, um ihren Alltag besser bewältigen zu können? Wir haben sie gefragt.

Interviews Jasmin Kalarickal Fotografien Ina Schoenenburg

Deborah Moses-Sanks Metke, 68, Fotojournalistin

Deborah Moses-Sanks Metke

Im Fokus meiner Arbeit stehen Frauen; sie und ihre Kinder, ihr Leben, ihr Überlebenswille. Als ich in den 80er-Jahren als Fotografin in Angola arbeitete, erlebte ich den für meine Arbeit entscheidenden Moment. In einem Dorf sah ich eine Frau auf dem Boden im Schatten sitzen. Sie hatte ihre Beine durch Landminen verloren. Als ich ein Foto von ihr machen wollte, drehte sie sich um, erst dann sah ich, dass sie auf ihrem Rücken ein Kind trug. Von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass Frauen und Kinder immer der Fokus meiner Arbeit sein werden. Die Stärke dieser Frau, die ohne Beine ihr Kind trug, hat mich sehr beeindruckt und berührt.

Ich möchte zeigen, dass Frauen kämpfen, lachen, weinen und lieben können. Ich bin in der Südbronx in einer sehr gewalttätigen Zeit aufgewachsen. Ich bin auf die Straße gegangen für das Recht zu wählen, das erst 1965 für Schwarze Menschen endlich errungen wurde. Wenn ich heute sehe, wie Schwarze Menschen und Menschen of Color in «Demokratien» leben und behandelt werden, dann stelle ich dieses Wort infrage. Demokratie steht für mich für männliche, weiße Vorherrschaft. Feminismus kann und muss das ändern! Nicht nur in den USA. Auch hier in Berlin können sich Schwarze Menschen und Menschen of Color nicht in allen Stadtteilen sicher bewegen.

Ich kam 1999 nach Deutschland und wurde Teil der Schwarzen queerfeministischen Frauen*organisation ADEFRA. Ich schaue hoffnungsvoll in die Zukunft. Ich habe mich zum Beispiel so bestärkt gefühlt, als Emma Gonzales, diese junge Frau of Color, sich für strengere Waffengesetze in den USA eingesetzt hat. Sie hat vor Tausenden von Menschen ihre Wahrheit gesprochen! Wir brauchen keinen neuen Feminismus, denn es gab schon immer starke Schwarze Frauen und Frauen of Color. Wir müssen sie nur sichtbar machen.

Kristy Schank, 35, ist Frauenvertreterin in den Einrichtungen und Landesdienststellen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Kristy Schank

Bibliothekarin ist ein weiblich konnotierter Beruf, hier arbeiten knapp 72 Prozent Frauen. Doch auf den Führungsebenen sieht das anders aus. Je höher im Organigramm, desto männlicher wird es in vielen Bibliotheken. Als Frauenvertreterin handele ich auf der Basis des Landesgleichstellungsgesetzes Berlins, das dafür sorgen soll, dass Frauen in allen Bereichen ausreichend vertreten sind. Ich achte auf faire Ausschreibungen, begleite Bewerbungsverfahren, aber bin auch Ansprechpartnerin für Anliegen wie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Fragen zu Mutterschutz und Elternzeit.

Nach meiner Erfahrung werden Frauen nach der Elternzeit häufiger Stellen mit einem geringeren Status angeboten. Von einer Referatsleitung, einer Führungsposition im mittleren Bereich, geht es in einen Projektbereich oder in Arbeitsgruppen, das ist das Muster. Führungspositionen werden ungern in Teilzeit vergeben. Frauen arbeiten öfter in Teilzeit, vor allem wenn sie Kinder haben.

Für gut ausgebildete Frauen, die in einem bestimmten Bereich Kompetenzen erworben haben, sind solche Erfahrungen frustrierend. Viele wechseln dann die Stelle, obwohl sie eigentlich bleiben möchten, wenn die Bedingungen stimmen würden. Das finde ich ein Unding! Auch vom Wissenstransfer her gesehen ist das nicht sinnvoll. Arbeitgeber können das anders gestalten. Man kann kommissarische Übernahmen organisieren, Stellen als Elternzeitvertretung ausschreiben, man kann Führungspositionen in Teilzeit anbieten.

Egal wie altbacken «Frauenvertreterin» heutzutage vielleicht klingen mag, wir machen wichtige Arbeit. Gleichstellung ist gesetzlich verankert, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit.

Harald Walter, 57, ist Daimlermitarbeiter und Vertrauensmann der IG Metall

Harald Walter

Unser Werk in Untertürkheim ist ein Entwicklungs- und Produktionsstandort, wir haben etwa 25.000 Mitarbeitende. In der Entwicklung liegt der Frauenanteil etwa bei einem Drittel, in den Werkstätten sind es weniger. Ich würde schon sagen, dass Frauen bei uns mit ihrer Arbeit auf jeden Fall anerkannt sind. Aber es gibt bestimmt Dinge, die nicht in Ordnung sind, im Alltag, im Zwischenmenschlichen. Im Bereich Entwicklung der IG Metall haben wir mehrere Vertrauensleute, aber es ist keine Frau dabei. Und eine Frau wird vermutlich nicht zu einem Vertrauensmann gehen, um sich zu besprechen. «Frauenthemen» haben keinen Raum. Eine Quote könnte dazu führen, dass feministische Themen bei uns aufgewertet werden.

Obwohl Frauen bei Daimler unterrepräsentiert sind, habe ich das Gefühl, dass sie hier ganz gute Jobchancen haben. Aber wir müssen bei allem genauer hingucken, auch bei der Bezahlung. Wir haben zwar einen Tarif, aber es gibt eine Bandbreite an Entgeltgruppen. Es kann schon sein, dass Frauen benachteiligt werden, wenn sie vielleicht im Homeoffice arbeiten und weniger Präsenzzeit haben. Aber das Problem fängt ja oft viel früher an. Frauen arbeiten als Pflegerinnen, als Erzieherinnen, sie entscheiden sich für schlecht bezahlte Berufe. In der Industrie, wo viele Männer arbeiten, sind die gut bezahlten Arbeitsplätze. Wenn da der Anteil von Frauen geringer ist, bedeutet das, dass Frauen in der Summe schlechter entlohnt werden.

Und was mir noch Kopfschmerzen bereitet, ist die AfD-nahe Pseudogewerkschaft Zentrum Automobil. Wenn die weiter in der Automobilindustrie Fuß fassen, dann könnten alle Fortschritte, die wir bei der Gleichstellung gemacht haben, wieder zurückgedrängt werden.

Karin Jordan, 53, ist Modedesignerin und Teil der Genossenschaft Weiberwirtschaft

Karin Jordan

Mode ist weltweit eine harte Branche. In Bangladesch werden Frauen ausgebeutet, wovon wir hier Nutznießer sind. Auch in Deutschland werden Frauen schlecht bezahlt, es gibt wenig flexible Arbeitszeiten, Näherinnen essen ihr Brot an der Maschine. Ich habe mich entschieden, in einer Nische zu bleiben und selbstbestimmt zu arbeiten. Niemand braucht viele Anziehsachen. Ich möchte nicht ständig neue Kollektionen entwerfen, auf Messen gehen und mich den Marktmechanismen unterwerfen.

Ich mache heute vor allem Mode für Frauen in Führungspositionen. Frauen können historisch gesehen noch nicht lange mitbestimmen, das bestimmt bis heute unbewusste Reaktionsmuster. Vor allem nach der Wende – ich komme aus der ehemaligen DDR – habe ich gespürt, dass Frauen mit ihrer Meinung in der Wirtschaft und Politik nicht deutlich genug vertreten sind. Mode ist für mich mehr als nur Form. Kleidung macht etwas mit unseren Körpern. Nicht nur über die Farbe und Stofflichkeit, sondern darüber, wie es sich anfühlt, wenn wir sie tragen. Bei Frauen ist zum Beispiel der Bauch ein ganz empfindliches Thema. Der Atem wird reduziert, man nimmt sich zurück. Das ist wie ein gesellschaftlich antrainiertes Korsett. Aber wir haben doch Kraft im Bauchraum!

Irgendwann hab’ ich gemerkt, dass sich fast alle Frauen in Hosen irgendwie falsch fühlen. Ich habe dann fünf Jahre lang Hosen analysiert, um eine Hose zu schaffen, in der sich Frauen richtig fühlen, mit ihren Hüften, ihrem Po, ihren Oberschenkeln. Mode machen funktioniert wie Architektur, man kann einen Raum schaffen, in dem man sich gut fühlt. Ich habe mich nie explizit als Feministin verstanden, aber ich habe einen unbedingten Willen, von Frauen für Frauen etwas zu schaffen, damit sie zu ihren Stärken finden.

Johann Popp, 50, ist Krankenpfleger und Betriebsrat in der Hamburger Gesundheitshilfe

Johann Popp

Meine Ausbildung zum Krankenpfleger hat viele verwundert. Der Großteil der Pflegekräfte ist weiblich, viele arbeiten in Teilzeit, viele sind alleinerziehend. Fürsorge wird ja traditionell dem Weiblichen zugeordnet und gesellschaftlich nicht so anerkannt. Das zeigt sich bis heute in der schlechten Bezahlung.

In der ambulanten Palliativpflege besuche ich Menschen zu Hause, damit sie würdevoll in vertrauter Umgebung sterben können. Es geht nicht nur um medizinische und pflegerische Versorgung. Wir sind zusammen, wir reden. Und wenn eine gute Bindung besteht, dann wird die Pflege einfacher, dann spielt zum Beispiel bei der Körperpflege das Geschlecht keine Rolle. Es geht um das Individuum, es geht um Fürsorge. Um all das zu verbessern, müssen wir die Care-Arbeit positiv besetzen, das findet sich in vielen feministischen Diskursen wieder.

Fürsorge widerspricht diesem Mainstreamdenken von Effizienz, das unser Gesundheitswesen dominiert. Mitgefühl und Zuwendung sind schlecht messbar. Zudem wird der Großteil der Pflegearbeit von Angehörigen übernommen, im Privaten und unentgeltlich. Das macht es für ausgebildete Pflegekräfte vielleicht auch schwieriger, wie Profis zu verdienen. Und es ist schwierig, unsere Rechte einzufordern. Wenn wir streiken, lassen wir Menschen in ihrer Not alleine. Wir können Pflegebedürftige ja nicht als Geiseln nehmen. Durch den Pflegenotstand ist vieles so eng getaktet, dass kaum Zeit für Verbesserungen bleibt. Das Erste, was sich deshalb ändern muss: Wir brauchen mehr Zeit und mehr Geld. Feminismus hilft, politische Forderungen zu stellen. So kann ich als Betriebsrat sagen: Wir müssen uns um Fürsorge kümmern. Wie kriegen wir das in einen Tarifvertrag?

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Muhannad Qaiconie, 31, Student am Bard College und Mitbegründer der arabischen Bibliothek Baynatna

Muhannad Qaiconie

Ich habe das erste Mal in meinem Leben über Gender nachgedacht, als ich am Bard College einen kleinen Auszug aus Judith Butlers Buch «Gender Trouble» (Das Unbehagen der Geschlechter) las. Ich war so beeindruckt von dem Gedanken, dass wir unsere Geschlechtsidentität inszenieren und durch permanente Sprechakte bestätigen. Ich bin 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. Ich bin also in einer mehr oder weniger geschlossenen und autoritären Gesellschaft aufgewachsen, einem Land, das durch Männer regiert wird. Im Arabischen Frühling hat sich unsere Gesellschaft stark verändert. Frauen waren ein wichtiger Teil der Revolution, sie sind nicht nur gegen das Regime mit auf die Straße gegangen, sie haben sich auch um die Verletzten gekümmert. Dann brach der Krieg aus. Mir wurde erst im Nachhinein klar, wie sehr Macht und Militär auf Gender basieren. Schon in der Schule wird Männern beigebracht, stark zu sein. Es wird ihnen gesagt, dass sie ihr Land verteidigen sollen. Das Ergebnis können wir nun sehen: Es gibt Krieg. Wir vergewaltigen Frauen. Wir töten. Diese Form von Sozialisation untergräbt die Würde jedes einzelnen Menschen. Deswegen braucht jede Gesellschaft Feminismus. Weltweit fordern Frauen gleiche

Rechte ein, darum geht es: um Gleichbehandlung, um gleiche Bezahlung, um Mitbestimmung. Auch hier in Deutschland verdienen Frauen weniger Geld für die gleiche Arbeit, nur weil sie Frauen sind. In diesem Punkt unterscheidet sich Deutschland nicht von einem Land des globalen Südens. Und wissen Sie, in welchem Land die meisten Frauen im Parlament sitzen? Es ist Ruanda.

Ich habe übrigens nach einer arabischen Übersetzung von «Gender Trouble» gesucht – es gibt sie nicht. Ich möchte dieses Buch nun übersetzen.

Anette Diehl, 55, ist Traumafachberaterin beim Frauennotruf Mainz

Anette Diehl

In den vergangenen dreißig Jahren hat sich viel getan: Es wird mehr über sexuelle Gewalt berichtet, es gibt Missbrauchsbeauftragte und viel mehr spezialisierte Beratungsstellen. Über 80 Prozent der Vergewaltigungen finden im sozialen Nahraum statt und es betrifft Frauen aller Altersgruppen und Milieus. Vergangenes Jahr gab es einen Paradigmenwechsel durch die Sexualstrafrechtsreform «Nein heißt Nein». Aber es wird viele Jahre dauern, bis das in den Köpfen der Betroffenen ankommt – und bei denen, die dieses Recht umsetzen. Die wenigen Frauen, die sexuelle Gewalt anzeigen, kommen oft nicht zu ihrem Recht. Die Quote der Verurteilungen in Deutschland ist im europäischen Vergleich sehr schlecht.

Die meisten Frauen, die zu uns kommen, haben sexuellen Missbrauch in der Kindheit oder eine Vergewaltigung erlebt. Viele wollen das Geschehene einordnen und Scham- und Schuldgefühle klären, um im Alltag wieder selbstbestimmt leben zu können. Wir lassen sie reden, wir hören zu, wir glauben ihnen. Oft werden sie im Alltag durch Schlüsselreize von ihrem Trauma eingeholt, reagieren mit Flashbacks oder Panikattacken. Dann zeigen wir ihnen zum Beispiel Atemübungen, die dabei helfen, sich wieder im Hier und Jetzt zu verankern.

Wir stecken unser Herzblut in die Arbeit, aber wir arbeiten alle am Limit. Als es etwa darum ging, das Sexualstrafrecht zu reformieren, hatten wir viel zu wenig Zeit, um Politiker*innen zu diesem Thema zu coachen. Unsere Expertise muss noch viel mehr dahin, wo sie gebraucht wird: in die Politik, in die Gesetzgebung. Gewalt an Frauen ist Ausdruck der Ungleichheit der Geschlechter. Wir brauchen immer noch «Frauenräume», um uns in einer männlich dominierten Welt zu definieren. Aber Frauen und Männer müssen miteinander reden, auch das ist unabdingbar.