Die Begründung der Jury: Anne-Klein-Frauenpreis 2020

Der Anne-Klein-Frauenpreis geht 2020 an die Menschenrechtlerin und Frauenaktivistin Prasanna Gettu aus Chennai, Indien. Die Kriminologin ist eine bemerkenswerte und mutige Verteidigerin der Menschenrechte und der Rechte der Frauen auf ein gewaltfreies und selbstbestimmtes Leben in Würde und Gesundheit. Sie hat die Organisation International Foundation for Crime Prevention & Victim Care (PCVC) gegründet, die nachhaltige Unterstützungsangebote für von Gewalt betroffene Frauen in Indien macht. Denn der Alltag der Menschen in Indien ist von einer großen zwischenmenschlichen Gewaltbereitschaft geprägt, die sich gegen Frauen auch innerhalb der Familien entlädt. Prasanna Gettu setzt sich besonders für die Überlebenden von Brand- und Säureattacken ein.

Indien ist nach einer G-20-Studie von 2012 das frauenfeindlichste Land unter den großen Nationen der Welt. Grund ist die in der indischen Gesellschaft weit verbreitete Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Trotz gesetzlicher Gleichstellung von Männern und Frauen liegt der Subkontinent in der Studie damit hinter Saudi-Arabien an letzter Stelle.

Patriarchale Strukturen sind fest im Leben und Denken der Menschen in Indien verankert. Dazu gehört die patrilokale Familienordnung. Traditionsgemäß verlässt die Frau nach der Heirat die eigene Familie und gehört fortan zur Familie des Ehemanns. Diese Ordnung hat weitreichende Konsequenzen für den gesellschaftlichen Wert, der Frauen zugeschrieben wird, und trägt zur strukturellen Diskriminierung von Frauen bei. In der Familie des Ehemanns nimmt die Frau zunächst die unterste Stufe in der Familienhierarchie ein und ist gewalttätigen Übergriffen der angetrauten Verwandtschaft schutzlos ausgeliefert.

Dies ist Prasanna Gettu nicht bereit, zu akzeptieren. Mit ihrer 2001 im ostindischen Chennai gegründeten Organisation PCVC (International Foundation for Crime Prevention & Victim Care) stemmt sie sich vor allem gegen häusliche und innerfamiliäre Gewalt gegen Frauen und deren besondere Form der Säure- und Brandattacken. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass 2018 erstmals eine Hotline für Opfer von Verbrennungen in akuter Notsituation eingerichtet wurde. Endlich gibt es auch ein Heilungszentrum für traumasensible medizinische Unterstützung. Gemeinsam mit Gemeinden, Gesundheitseinrichtungen und der Polizei arbeitet Prasanna Gettu an Aufklärung und Prävention; in einem gesonderten Programm zeigt PCVC Kindern, die häusliche Gewalt erlitten haben, einen Weg aus der Gewalt auf.

Die Organisation ist darüber hinaus auch eine Anlaufstelle für junge Frauen mit LGBTIQ-Hintergrund, denen, wenn sie von ihren Familien fliehen müssen, oftmals jegliche Unterstützung fehlt. Dabei steht Prasanna Gettu auch nach persönlichen Drohungen und massiven Anfeindungen immer an der Seite der Überlebenden und Frauen und Mädchen.

Außerhalb der Familie sind Schutzräume für Frauen in Indien sehr selten. Es ist auch Prasanna Gettus Verdienst, dass sich das, wenn auch sehr langsam, ändert. Nach der brutalen tödlichen Vergewaltigung einer Studentin durch mehrere Männer im Dezember 2012 hat die indische Regierung zwar mit einigen Schutzmaßnahmen und Reformen reagiert, sie zeigen allerdings kaum Wirkung: 2018 wurde Indien von der Thomson-Reuters-Stiftung wegen des hohen Risikos von sexueller Gewalt noch vor Afghanistan und Syrien, die die Plätze 2 und 3 belegen, als gefährlichstes Land für Frauen weltweit eingestuft. Nach der letzten landesweiten Umfrage des indischen Gesundheitsministeriums ist jede dritte Frau zwischen ihrem 15. und 49. Lebensjahr häuslicher Gewalt ausgesetzt.

Mit Prasanna Gettu würdigt die Jury des Anne-Klein-Frauenpreises den persönlichen Mut und die Hartnäckigkeit der indischen Kämpferin für das Recht aller Frauen auf ein gewaltfreies, selbstbestimmtes Leben und den überzeugenden Ansatz ihrer Organisation PCVC, die in Indien nachhaltige Unterstützungsangebote von Krisenintervention über medizinische und juristische Betreuung bis hin zum Empowerment für ein eigenständiges, gewaltfreies und im besten Falle schmerzfreies Leben schafft und weit über die Grenzen des Subkontinents hinaus strahlt. Prasanna Gettu ist ein Vorbild für alle Frauen und Mädchen weltweit.

 

Der Jury des Anne-Klein-Frauenpreises gehören an:

  • Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung, Juryvorsitzende
  • Renate Künast, MdB, Bündnis90/Die Grünen
  • Prof. Dr. Michaele Schreyer, Vize-Präsidentin des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland
  • Jutta Wagner, Rechtsanwältin, ehemalige Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes
  • Thomas Herrendorf, Inneneinrichter

 

Berlin, den 9. Dezember 2019

Kontakt

Ulrike Cichon
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