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10 Forderungen an eine emanzipatorische Steuerpolitik

Reformen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern im gesellschaftlichen Raum. Welche Schritte sind notwendig, um Steuerpolitik geschlechtergerecht zu gestalten? Wie können Politik und Verwaltung ihrer Verantwortung bezüglich des Gender Mainstreaming gerecht werden? Die folgenden 10 Forderungen zeigen 10 – notwendige – Zugänge zu einem gerechten Steuersystem.

Foto einen Straßenschilds mit einem Richtungspfeil
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Welche Forderungen müssen auf dem Weg zu einer emanzipatorischen Steuerpolitik erfüllt werden?
  1. Ein wirklich geschlechtergerechtes Steuersystem kann nur auf Individualbesteuerung basieren. Nur die einzelne Besteuerung jeder Bürgerin, jedes Bürgers garantiert, dass keine steuerlichen Negativanreize gesetzt werden, die Steuervorteile günstiger erscheinen lassen als eigenständige Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit. Individualbesteuerung ermöglicht Paaren, ihre Erwerbs- und Familienarbeit fair aufzuteilen und eigenverantwortlich zu bestimmen, wie das Haushaltseinkommen erwirtschaftet, verteilt und ausgegeben wird. Nur die Individualbesteuerung kann die staatlich-steuerliche Bevormundung von Paaren bezüglich ihrer internen Arbeitsteilung beenden.
     
  2. Die Probleme, die das Ehegattensplitting nach sich zieht, müssen klar benannt und diskutiert werden. Dazu gehört auch die Tatsache, dass das Ehegattensplitting zwei Grundrechte gegeneinander ausspielt: Der Schutz der Ehe und Familie nach Art. 6 GG wird im Steuerrecht auf Kosten des Art. 3 GG, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sowie Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Das Ehegattensplitting verletzt Art. 3 GG Abs. 2, in dem es weiter heißt „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Herausforderung der Individualbesteuerung besteht in der Verfassungskonformität derselben. Es wird zu klären sein, ob das Bundesverfassungsgericht die Benachteiligung einzelner Paare der systematischen Benachteiligung von Frauen gegenüber als schwerwiegender einschätzt.
     
  3. Es erfordert politischen Mut und eine klare emanzipatorische Überzeugung, um diese Missstände zu benennen. Die Abschaffung des Ehegattensplittings wird einzelne Benachteiligungen und eine Debatte über die Bedeutung der Grundrechte nach sich ziehen. Der Grad einzelner Benachteiligungen muss in Bezug gesetzt werden zu einer systematischen und konsequenten Umsetzung von Gleichstellung und Geschlechterdemokratie, für die die Individualbesteuerung eine wesentliche Voraussetzung ist.
     
  4. Das Familiensplitting ist aus geschlechter- wie aus verteilungspolitischer Sicht abzulehnen, da es das heutige System des Ehegattensplittings noch verschärft.
     
  5. Das Eherealsplitting oder Individualbesteuerung mit übertragbarem Freibetrag wäre ein möglicher Weg zur Abschaffung des Ehegattensplittings, der aber nur für wenig gleichstellungspolitische Effekte sorgt. Es besteht allerdings die Gefahr, beim Realsplitting „stehen zu bleiben“ und damit zumindest für untere und mittlere Einkommensgruppen die Probleme des Ehegattensplitting zu konservieren. Insofern ist auch diese Besteuerung wenig wünschenswert. Ein möglicher „Zwischenweg“ besteht in einem System der Individualbesteuerung mit übertragbarem Grundfreibetrag, der dem Existenzminimum entsprechen sollte.
     
  6. Es fehlt bislang ein sauberes Leitbild für Gender im Steuer- und Sozialrecht. Die Abschaffung des Ehegattensplitting und damit auch der Wegfall der Lohnsteuerklassen II bis V muss einhergehen mit einer weiterführenden Debatte über Ehegattensubsidiarität und Abhängigkeiten. Mittelfristig müssen auch Alternativen zu den Bedarfsgemeinschaften oder Familienmitversicherung gefunden werden, um zu einem umfassenden Individualprinzip zu gelangen.
     
  7. Die Ministerien, vor allem die Finanzverwaltung, müssen endlich ihrer Verpflichtung nachkommen und den Gender Mainstreaming Ansatz konsequent umsetzen. Dazu gehört in erster Linie die Erhebung geschlechtersensibler Daten im Steuersystem, um eine belastbare Grundlage für die weitere Diskussion geschlechtsspezifischer Auswirkungen steuerlicher Instrumente zu bekommen.
     
  8. Für die weitere Debatte und politische Zielformulierung ist neben einer besseren Datenerhebung auch intensivere Forschung zum Thema „Geschlechtersensibles Steuersystem“, die auch den internationalen Vergleich mit einbezieht, notwendig. Gerade StipendiengeberInnen sind aufgerufen, entsprechende Forschung zu fördern und Graduiertenkollegs einzurichten.
     
  9. Geschlechtergerechtigkeit im Steuersystem kann daher nur bedeuten: Einführung der Individualbesteuerung, aber auch darüber hinaus: Veränderung des politischen Fokus auf die einzelne Staatsbürgerin, den einzelnen Staatsbürger. Denn außer dem Ehegattensplitting gibt es im Steuer- und Sozialrecht noch viele weitere „Abhängigkeitsfallen“, weil statt Individuen Paare bzw. Ehepaare als kleinste gesellschaftliche Einheit betrachtet werden.
     
  10. Geschlechtergerechtigkeit im Steuersystem anzustreben bedeutet: Einführung der Individualbesteuerung, und darüber hinaus: Veränderung des politischen Fokus auf die einzelne Staatsbürgerin, den einzelnen Staatsbürger. Neben dem Ehegattensplitting müssen die Lohnsteuerklassen III bis V ersatzlos gestrichen werden. Auch die kostenfreie Mitversicherung von Ehegatten in der Krankenversicherung erhält das Bild der abhängigen Person aufrecht. Große sozialpolitische Probleme ergeben sich aus der mit der Unterhaltspflicht begründeten Ehegattensubsidiarität, welche Paare grundsätzlich als Bedarfsgemeinschaften begreift: Arbeitslosen und hilfebedürftigen PartnerInnen werden mit Verweis auf das Partnereinkommen unterstützende Sozialleistungen, aber auch Qualifikationen und Trainings für den Arbeitsmarkt verwehrt. Diese verdeckte Arbeitslosigkeit gilt es offen zu legen.

 

Fazit: Der Mensch im Fokus

Klar ist: es ist für Staat und Gesellschaft erfreulich und unterstützenswert, wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Zur Debatte steht aber, welche Art von Solidarität der Staat voraussetzen darf oder soll und wie Steuerpolitik, Familienförderung, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik so zu gestalten sind, dass sie an den Bedürfnissen der Individuen ausgerichtet sind. Die heutigen, aus den zwanghaften Vorstellungen normierter Lebensläufe herausgelösten Modelle des Zusammenlebens basieren immer häufiger auf einer freiwilligen Übernahme von Verantwortung und bleiben doch ein Zusammenschluss von Individuen. Es wird höchste Zeit, dass wir das Steuersystem, aber auch die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik den gesellschaftlichen Bedingungen, die schon viel moderner sind, als konservative VerfechterInnen der Ehebesteuerung dies wahrhaben wollen, anpassen. Notwendig ist eine Reform, die einhergeht mit einem politischen Paradigmenwechsel hin zu einer konsequent am Individuum ausgerichteten Politik. AdressatIn staatlicher Förderpolitik sollte die einzelne Staatsbürgerin, der einzelne Staatsbürger sein. Die Übernahme von Verantwortung für andere Menschen ist aus staatlicher Sicht wünschenswert und zu fördern – aber nicht zu Lasten selbstbestimmten Lebens.