Die Betreuung und Sorge von pflege- und hilfebedürftigen Menschen – ob nun im professionellen oder im privaten Bereich – hat viele Facetten. Die dabei geleistete Arbeit wird im pflegewissenschaftlichen Diskurs auch als Care bezeichnet. Zum einen umfasst dies die körperliche Pflege eines Menschen. Zum anderen wird noch eine weitere Dimension angesprochen: das Kümmern, die Sorgearbeit, bei der es um Fürsorge und Achtsamkeit zwischen Pflegenden und dem/der auf Pflege Angewiesenen geht. Dadurch eröffnet sich ein ganzheitlicher Blick auf den hilfe- und pflegebedürftigen Menschen. Der Begriff Care umfasst daher eine etwas weitere Sicht als der deutsche Begriff der Pflege und genau darin liegt auch seine Stärke.
Dass Care Ökonomie als bisher noch vernachlässigtes Thema innerhalb der wirtschaftstheoretischen Auseinandersetzung angesehen wird, kann im Bereich der Pflege auf die mehrheitliche Ausübung durch Frauen zurückgeführt werden. Noch dazu gestaltet es sich schwierig, ökonomische Anforderungen, die geprägt sind durch Effizienzbemühungen, durch Input-Outputmessung und Produktions- und Produktivitätssteigerung, auf die Pflegearbeit zu übertragen. Dies beginnt bereits bei der sinnvollen Messbarkeit von Qualität, sei es in Bezug auf Ergebnis-, Struktur- oder Prozessqualität.
Das Pflege-Erbe der Florence Nightingale
Pflege ist als Care-Aufgabe historisch betrachtet schon immer eine weiblich geprägte Domäne. Auch heute sind 88 Prozent der Pflegekräfte im ambulanten und 85 Prozent im stationären Bereich weiblich. Schaut man einmal in den häuslichen Bereich, dann lässt sich eine ähnliche Verteilung erkennen. Hier sind drei Viertel der Hauptpflegepersonen Frauen. In der Regel stehen sie als Ehefrauen, Töchter, Schwieger- oder Enkeltöchter in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu der zu pflegenden Person. Sehr häufig pflegen ältere bis hochaltrige Ehe- und Lebenspartnerinnen ihren pflegebedürftigen Angehörigen.
Warum die Pflege sich seit Jahrhunderten nicht von dieser Rollenzuschreibung lösen kann, ist eine berechtigte Frage. Weder im familiären noch im professionellen Bereich ist ein wirklicher Aufbruch zu erkennen. Damit in Zusammenhang steht auch die Frage, warum die Care Ökonomie hier bisher keine Diskussionsplattform gefunden hat. Fakt ist, die Bedeutung der Übernahme von Pflegeleistungen und Care-Aufgaben nimmt angesichts der wachsenden Anzahl an Pflegebedürftigen zu. Mehr als die Hälfte aller über Fünfzigjährigen hat bereits persönlich Pflegeerfahrungen im eigenen sozialen Umfeld gesammelt. Das Thema ist in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Bedauerlich ist, dass die Auseinandersetzung über den Mehrwert der erbrachten Pflege, den auch Christa Wichterich in ihrem Artikel „Sorge, Marktökonomie und Geschlechtergerechtigkeit“ beschreibt, erst auf- und Ernst genommen wird vor dem Hintergrund des schwindenden Pflegepotenzials. Nach einer aktuellen Prognose des Statistischen Bundesamts werden bis 2025 rund 112.000 Vollzeitstellen für ausgebildete und ungelernte Alten- und Krankenpfleger sowie Helfer nicht besetzt werden können. Es ist also ganz offensichtlich in den letzten Jahren versäumt worden, die Pflege attraktiv zu machen und anzuerkennen, welche Leistungen hier erbracht werden. Dies wurde – typisch für sog. Frauenberufe – als „selbstverständlich“ erachtet und blieb demnach unsichtbar.
Durch die Einführung der Pflegeversicherung 1995 halten ökonomische Logiken Einzug in die Pflege. Gleichzeitig kam es innerhalb der Pflegeberufe zu einem Professionalisierungsschub sowie zu Qualitätsoffensiven. Versäumt worden ist, eine breite Diskussion zu führen, welchen Wert Pflegearbeit hervorbringt und unter welchen ökonomischen Prämissen, etwa einer anständigen Entlohnung, diese stattzufinden hat. In diesem Zusammenhang wird man auch über die Unterscheidungsmerkmale von Laien- und professioneller Pflege sprechen müssen. Denn eine Unterscheidung in Laien-Pflege und Professionellen-Pflege ist ein zentrales Kriterium, das bei der Kritik von Frau Buhls zum Einsatz von Ehrenamt in der Pflege eine nicht zu vernachlässigende Tatsache ist. Zwischen professioneller Pflege und Laien-Pflege liegen große Unterschiede in Bezug auf Fachlichkeit, Standards, pflegerische Leitlinien, etc.
Care Ökonomie muss sich emanzipieren
Pflege ist weiblich. Das Berufsbild scheint noch immer zu unattraktiv, als dass sich hier eine ausgewogene Geschlechterverteilung einstellen könnte. Es gibt durchaus Männer im Berufsfeld. Diese sind aber zum überwiegenden Teil in Leitungsfunktionen tätig. Wenn Männer in die Pflege gehen, verabschiedet sich die Mehrzahl von ihnen sehr schnell aus dem Bereich der Hands-on-Pflege. Oft ist die direkte Pflege für sie nur eine kurze Zwischenstation auf dem Karriereweg. Aber nicht nur in der Pflege finden sich derartige Verwerfungen, sondern auch in der Wirtschaft. Frauen in Chefsesseln sind weiterhin eine Seltenheit. Das zeigt, dass unsere grüne Forderung zur Einführung einer verbindlichen Frauenquote besonders in Führungspositionen weiterhin notwendig ist. Aber auch am unteren Ende der Einkommensskala besteht Handlungsbedarf. Eine Regulierung der Leiharbeit und Mindestlöhne sind unerlässlich. Den in 2010 beschlossenen Mindestlohn für Hilfskräfte in der Pflegebranche haben wir zwar sehr begrüßt. Die Unterscheidung jedoch in einen Ost- und West-Mindestlohn, wie auch die Höhe als solche (7,50 Euro Ost, 8,50 Euro West) halten wir für sehr problematisch. Noch dazu ist der Mindestlohn bis 2014 befristet und soll nach dem Willen des Bundeswirtschaftsministeriums dann nochmals kritisch überdacht werden. Gerade die in der Pflege tätigen Frauen werden mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen, Teilzeit- und Minijobs sowie Leiharbeit in prekäre Verhältnisse gedrängt. Das macht deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem dort erbrachten Mehrwert ist.
Ökonomische Aspekte in der Pflege durch Angehörige
Die Frage der Übernahme von Care Aufgaben ist dabei keine rein pflegepolitische Aufgabe, sondern verzahnt sich mindestens mit der Arbeitsmarkt-, Frauen und Familienpolitik – vor allem in Bezug auf pflegende Angehörige. Die Angehörigenpflege macht derzeit den Großteil der Versorgung Pflegebedürftiger aus. Zuhause werden 1,62 Mio. von insgesamt 2,34 Mio. Pflegebedürftigen betreut. Hiervon erhalten 1,03 Mio. Betroffene Pflegegeld (vgl. Stat. Bundesamt Wiesbaden). Doch diese Pflegebereitschaft kennt Grenzen und bedarf gewisser Rahmenbedingungen. Es braucht nicht nur Einzelmaßnahmen, sondern eine Entlastungsoffensive für pflegende Angehörige. Die Grüne Familienpflegezeit versucht diesem Umstand Rechnung zu tragen. Unsere Familienpflegezeit sieht dabei vor, dass alle, die Verantwortung für eine/n andere/n übernehmen möchten, einen Anspruch auf eine 3-monatige Pflegezeit haben. Diese dient vor allem der Organisation von Pflege oder der Übernahme einer Sterbebegleitung. Damit soll verhindert werden, dass die Inanspruchnahme Nachteile im Arbeitsleben nach sich zieht. Unsere Pflegezeit geht zudem mit einer steuerfinanzierten Lohnersatzleistung in Höhe von 50 Prozent des Nettogehalts einher: mindestens 300 Euro, maximal 1.000 Euro. Begleitend dazu ist es erforderlich, das Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) so weiterzuentwickeln, dass ein Rückkehrrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Arbeitszeit besteht, die vor der Arbeitszeitreduzierung galt, zum Beispiel bedingt durch eine Pflegesituation.
Unser Modell folgt dem Ziel, nicht nur Frauen die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu ermöglichen. Auch Männer brauchen verstärkt Anreize, diese Aufgaben zu übernehmen. Doch solange Frauen EU-weit immer noch etwa 17,8 Prozent weniger als Männer verdienen, wie jüngst die Europäische Kommission in einer Verlautbarung unterstrich, solange werden wir den Fehlanreiz nicht überwinden, dass auch weiterhin zum Großteil Frauen die familiäre Pflege übernehmen werden. Wollen wir, dass sich Männer stärker in die Pflege einbringen, muss dieses „Gender Pay Gap“ geschlossen werden.
Eine „gute“ Care-Ökonomie werden wir des Weiteren nur dann hinbekommen, wenn wir die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen nicht nur als „Betroffene“, sondern verstärkt auch als Kunden oder Auftraggeber verstehen. Wir müssen weg von einer fast ausschließlich angebotsinduzierten, wenn man so will „bemutternden“ Pflegelandschaft, wie wir sie heute in Deutschland vorfinden. Deswegen müssen die Wahlmöglichkeiten im Sinne eines Leitbildes der Nutzerorientierung deutlich ausgebaut werden. Jede und Jeder muss wählen können, welches Pflegearrangement für sie/ihn am stimmigsten ist. So brauchen wir eine Vielfalt von niedrigschwellig abrufbaren Angeboten, etwa im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen.
Die Einführung eines persönlichen Pflegebudgets etwa wäre ein bedeutsamer Schritt zur Erhöhung der Nutzersouveränität und Gestaltungsmacht von Pflegebedürftigen. Mit einem solchen Budget, das ein Wahlangebot sein muss, können pflegebedürftige Menschen Leistungen jenseits der starren Vorgaben der Pflegeversicherung selbst auswählen und „einkaufen“. Hierdurch können sie verstärkt Einfluss auf die Leistungsangebote am Pflegemarkt nehmen. Der Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern würde im Sinne (der Nachfrage) der Verbraucherinnen und Verbraucher gefördert. Die Angebote würden in einem solch Kunden-gesteuerten Markt individuell passgenauer und finanziell flexibler.
Bei allen Forderungen nach mehr Nutzersouveränität muss aber auch gelten: Wir dürfen die Menschen in einer solch schwierigen und sensiblen Lebenssituation, in der sie auf Hilfe angewiesen sind, nicht allein lassen. Deswegen müssen zum einen unabhängige Beratungsmöglichkeiten deutlich ausgebaut werden. Zudem müssen zügig professionelle Case-Management-Strukturen in der Pflege aufgebaut werden. Das Case-Management soll eine zwingend neutrale, begleitende und beratende Instanz sein, die quasi-anwaltschaftlich und in enger Abstimmung mit ihren MandantInnen die notwendigen pflegerischen Leistungen auswählt, bündelt und koordiniert. Damit wird für ein hohes Maß an Versorgungskontinuität und –qualität sowie für die Wahrung von Verbraucherschutzrechten gesorgt. Ziel eines guten und professionellen Case-Managements muss es immer sein, die Betroffenen und ihre Angehörigen zu befähigen, auf lange Sicht ihre Versorgung selbstständig zu organisieren.