Wie „systemrelevant“ eine Tätigkeit in einer Gesellschaft eingeschätzt wird, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, welcher politische Aufwand betrieben wird, um Krisen zu verhindern oder zu beheben.
Es gehört zu den zentralen Aufgaben des Staates, zwischen Produktion und sozialer Reproduktion, zwischen Privathaushalten und Märkten wirtschafts-, sozial- und biopolitisch zu vermitteln. Das geschieht in den westlichen Sozialstaaten
- durch soziale Sicherungssysteme,
- durch die aufgabenteilige Zuweisung von Sorgearbeiten an die vier Versorgungsinstitutionen in der Gesellschaft - die Familie, Solidarnetze, privatwirtschaftliche Angebote und den öffentlichen Sektor, die Sharah Razavi „Sorge-Diamant“ nennt (1),
- durch eine pro- oder antinatalistische Bevölkerungspolitik, die auf demographische Entwicklungen reagiert, und
- schließlich durch ein Migrationsregime, das instrumentell ist, Lücken in der Markt-, aber auch in der Sorgeökonomie zu füllen.
Die Abspaltung der Sorgeökonomie von der Marktökonomie
Die politische Vermittlung von Produktion und sozialer Reproduktion muss eine Brücke schlagen über die künstliche Trennung zwischen Markt- und Sorgeökonomie. Seit der Industrialisierung ist die Produktion aus den sozialen und ökologischen Zusammenhängen „entbettet“, wie Karl Polanyi sagt (2), und Sorge-, Subsistenz- und Reproduktionsarbeiten sind von der Ökonomie abgespalten. Nur die geld-entlohnte marktförmige Arbeit zählt als produktiv und wertschöpfend. Die unbezahlte Sorgearbeit gilt als unproduktiv, obwohl sie mit den Märkten existentiell verflochten ist und von diesen ständig wie eine natürliche Ressource angeeignet wird. Kapitalistische Wertschöpfung ruht förmlich auf einem Polster von überwiegend unbezahlter und von Frauen geleisteter Sorgearbeit und von sozialen Sicherungs- und Reproduktionsnetzen. Ebenso ist sie existentiell abhängig von selbstregenerativen Kräften der Natur, deren Ressourcen sie unentwegt ausbeutet. Aus der Perspektive dieser Spaltung, die die neoklassische Ökonomie festschreibt, gelten Kinderbetreuung und der Wasserkreislauf der Natur gleichermaßen als außerökonomisch und nicht wertschöpfend.
Damit wird die Handlungsrationalität der Sorgeökonomie, die auf den Prinzipien von Wohlbefinden, menschlicher Entwicklung und Emotionalität beruht, der Funktionslogik des Markts, der auf Effizienz, Gewinnsteigerung und Wachstum zielt, untergeordnet. In der Folge werden Sorgearbeiten grundsätzlich gering geschätzt, auch wenn sie als Erwerbsarbeit geleistet werden. Die Marktkräfte versuchen allerdings, personennahe Dienstleistungen mithilfe von Modulen und Zeittakten dem Effizienzdiktat zu unterwerfen. Da Erziehung und Pflege jedoch mit ihren eigenen Zyklen, Tempi und asymmetrischen, d.h. nicht tauschförmigen Beziehungen (3) quer zu der geforderten Effizienz und Beschleunigung liegen, legitimiert dies immer wieder die Geringbewertung und –bezahlung dieser Arbeiten auf dem Markt.
Das bedeutet aber auch, dass die kapitalistischen Märkte die Sorgekapazitäten für sich nutzen, gleichzeitig aber ihre sozialen und moralischen Prinzipien aushöhlen. Ein Beispiel dafür ist die gängige Praxis, dass Wohlfahrtsorganisationen Leiharbeitsfirmen als Subunternehmen gründen, um Personal flexibler und außertariflich, d.h. kostengünstiger und effizienter einsetzen zu können. Ambulante PflegerInnen bekommen weder die Anfahrtswege zu den Pflegebedürftigen bezahlt noch die Kommunikation oder die Streicheleinheiten außerhalb des Zeittaktes der Verrichtungen.
Diese Spaltungen der Ökonomie in Sorge und Produktion, in unbezahlt und bezahlt, in gering- und hochbewertet ist auf engste verflochten mit der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung, da Fürsorglichkeit als weibliche Kernkompetenz und „natürliches Sozialkapital“ von Frauen konstruiert wird (4). So setzt sich die systematische Zuweisung von Sorgearbeiten an Frauen fort, auch wenn sie erwerbstätig sind. Die Überlebensfrage aller Gesellschaften, wer die Sorgearbeit für die Kleinen, die Kranken und die Alten macht (5), stellt sich angesichts vermehrter Erwerbstätigkeit von Frauen neu als Frage der „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ für Frauen.
Die Spaltung der Ökonomie bei gleichzeitiger Verflechtung, die ungleiche Bewertung von Arbeiten, die unterschiedlichen Funktionslogiken, die geschlechtsspezifischen Zuweisungen von Fähigkeiten und Arbeiten bei gleichzeitiger Veränderung von Geschlechterrollen – all dies sind systemimmanente Widersprüche, die periodisch oder teils auch dauerhaft zu krisenhaften Zuspitzungen führen. Ob nun Vereinbarkeitsprobleme, ein Mangel an öffentlichen Einrichtungen, Pflegenotstand in Krankenhäusern, Personalmangel und Unterbezahlung in der Kinderbetreuung – jede Krise in der sozialen Reproduktion von Gesellschaften und ihrer Sorgeökonomie ist Ausdruck davon, dass ein System mit diesen Widersprüchlichkeiten an Grenzen stößt und nicht nachhaltig versorgen und wirtschaften kann.
Familien- und geschlechterpolitische Lösungsansätze oder: nun sorgt euch mal schön um euch
Wie vermittelt nun die Politik zwischen Produktion und sozialer Reproduktion und den ihnen immanenten Widersprüchen? Die westlichen Wohlfahrtsregime steuern in unterschiedlicher Form mit einem Mix von Transferleistungen, Angeboten öffentlicher Infrastruktur, Regulierung des Marktes und gesetzlichen Bestimmungen, wie die gesellschaftlich notwendige Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern, zwischen Haushalten, Markt und öffentlichem Sektor geteilt wird. Beim Vergleich der Sozialpolitiken „kapitalistischer Wohlfahrtsregime“ unterschied Gosta Esping-Andersen (6) 1990 in Bezug auf den Bereich sozialer Reproduktion drei unterschiedliche Typen,
- das sozial-demokratische Regime der skandinavischen Länder,
- den Prototyp eines konservativen, familien- und ernährermann-orientierten Regimes in Deutschland und Italien, und
- das liberale, markt- und privatwirtschaftlich orientierte Regime in den USA.
In den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und in Frankreich flankierte die Politik die zunehmende weibliche Erwerbsarbeit mit öffentlichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung und Ganztagsschulen und bemühte sich auf diese Weise, das Problem der Vereinbarkeit gesellschaftlich zu lösen. Im bundesdeutschen Mix politischer Maßnahmen spiegeln sich Verschiebungen auf den Erwerbsmärkten und die Erosion des Ernährermodells, aber auch die Befürchtung, dass Deutschland wegen seiner niedrigen Geburtenrate dauerhaft wirtschaftliche Wachstumsprobleme bevorstehen. Die Ableitung von Rentenansprüchen aus familiarer Betreuungszeit und das Elterngeld, das versucht, Väter in die Sorgeverantwortung einzubeziehen, sind familiarisierte Lösungsansätze, der tendenziell auf mehr Geschlechtergerechtigkeit zielen, wenn sie auch noch weit von Gleichstellung entfernt sind. Auch das neue Pflegeversicherungsgesetz zielt auf die Mobilisierung von Familienangehörigen gleich welchen Geschlechts für die Altenbetreuung.(7)
Allgemein lässt sich für politische Interventionen sagen, die zwischen Gegensätzen oder Ungleichheiten in der Ökonomie vermitteln wollen, dass Maßnahmen an beiden Polen ansetzen müssen, wenn das gesamte Spektrum in Bewegung geraten soll. Dem Einbezug von Männern in die Sorgearbeit und der Familiarisierung von Altenpflege müssten systematische pro-aktive Gleichstellungsmaßnahmen in der Erwerbsarbeit gegenüberstehen: mehr Männer in Teilzeitjobs, mehr Frauen in Vollzeitjobs und Führungspositionen, ein Aufbrechen der geschlechtsspezifischen Segmentierung der Erwerbsmärkte, d.h. mehr Männer in frauenspezifische Berufe, mehr Frauen in Männerberufe, sowie ein Schließen des geschlechtsspezifischen Lohngefälles. Das bestreitet nicht die Notwendigkeit, z.B. Väterbetreuungszeit als Direktmaßnahme einzuführen und dadurch punktuelle oder individuelle Verbesserungen anzustreben. Doch wenn die Politik einen sozialen Wandel dieses komplexen Systems anstoßen will, braucht sie umfassende, ganzheitliche Konzepte für Geschlechtergerechtigkeit in der Sorge- und Marktökonomie, nicht nur Ein-Punkt-Maßnahmen. Mehr noch: ds vorgeschlagene Betreuungsgeld für Erziehung zu Hause statt in der Kita stärkt die Familiarisierung der Sorgeökonomie, entlastet den Staat, hält die Betreuenden vom Erwerbsmarkt fern und wirkt einer Gleichstellung in der Sorge- und Marktökonomie entgegen.
Arbeitsmarktpolitische Lösungsansätze oder: eine Schwalbe macht noch keinen Sommer
Gleichzeitig strebt die deutsche Politik eine marktförmige Linderung des Vereinbarkeitsproblems durch arbeitsmarkt- und migrationspolitische Maßnahmen an. Die Ausrufung der Privathaushalte als Beschäftigungsterrain und Wachstumsbranche für Familien-Dienstleisterinnen führt zu einer Ökonomisierung von Sorgearbeit. Dies geschieht allerdings mit einem Höchstmaß an Flexibilisierung und mit Dumping-Löhnen, sodass dieser neue Wachstumssektor zu einem Prototyp für prekäre Beschäftigungsverhältnisse geworden ist, mit einem hohen Anteil von working poor, Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit arm sind. Dies verändert weder die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung noch die Geringschätzung von Sorgearbeit.
Die Einführung von Mindestlöhnen im Pflegesektor und die Legalisierung temporärer Migration von Altenpflegerinnen aus Osteuropa zeigen, wie die Politik bemüht ist, sich nachholend demographischen Erfordernissen anzupassen, nämlich dem erhöhten Pflegebedarf in überalterten Gesellschaften. Zwar stellt der Mindestlohn für Pflege eine kleine Dosis Anerkennung dar, doch ihr müsste ein Höchsteinkommen für andere Sektoren gegenüberstehen, damit die wachsenden Unterschiede der Arbeitsbewertung- und entlohnung sich einander annähern.
Nach dem Streik der Betreuerinnen in Kitas 2009 kommentierte eine Kindergärtnerin: „Wir haben nicht für zwei ergometrische Stühle in den Kitas gestreikt, sondern für mehr Anerkennung unserer Arbeit.“ (8) Mit den Streiks, die viel Sympathie in der Bevölkerung fanden, stellten die Sorgearbeiterinnen auf dem Höhepunkt der globalen Krise implizit die Frage, welche Arbeit „systemrelevant“, sprich: notwendig für die Funktionstüchtigkeit des Systems sei. Für die Eltern wie auch für Familien mit pflegebedürftigen Alten ist die Antwort eindeutig: eine tragfähige Sorgeökonomie, die aus bezahlter und unbezahlter Pflege-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit besteht, ist unentbehrlich für die soziale Reproduktion der Gesellschaft und eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Erwerbsmärkte. Die Politik hatte die Frage der Systemrelevanz jedoch umgehend zugunsten des Finanz- und des Exportsektors beantwortet. Die Forderung der Kita-Beschäftigten nach Aufwertung ihrer Arbeit geht weit über geringe Lohnerhöhungen und Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinaus. Aufwertung von Sorgearbeiten muss einhergehen mit einer Überwindung der Spaltung von produktiver und „unproduktiver“ Arbeit und das heißt mit einer Umbewertung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit überhaupt. Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen sind dafür ein notwendiger, aber sehr bescheidener Anfang, der das System allerdings nicht so „irritiert“, dass dadurch strukturelle Veränderungen ausgelöst würden.(9)
Die Systemrelevanz von Sorgearbeit bestätigte sich in der Krise daruch, dass sich personennahe Dienstleistungen als krisenfest erwiesen. Auch die befürchteten Entlassungen von migrantischen Hausangestellten fand nur selten statt. Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, dass Frauen in Dienstleistungsgesellschaften „schlicht die besseren Jobs haben“ (10), ignoriert in zynischer Weise die prekären Arbeitsbedingungen und die andauernde Geringbewertung von Sorgearbeiten wie auch die Diskriminierung von MigrantInnen.
Migrationspolitische Lösungsansätze oder: die Not erfolgreich verschieben
Seit Jahrzehnten hat die deutsche Politik versucht, auch mit migrationspolitischen Instrumenten marktförmige Lösungen von Krisensituationen in der Sorgeökonomie zu erreichen. Als in den 1960er Jahren 30 000 PflegearbeiterInnen in deutschen Krankenhäusern fehlten, wurden unter anderem 8000 südkoreanische Krankenschwestern zunächst „irregulär“, durch private Agenturen und kirchliche Netzwerke angeworben, ab 1971 jedoch „regulär“ durch ein Regierungsabkommen. Sie waren hochqualifiziert, meist als Operationsschwestern ausgebildet, wurden in Deutschland jedoch dequalifiziert, ihre Abschlüsse wurden nicht anerkannt und sie wurden in der „geringqualifizierten“ Pflege als „Helferinnen“ zum Füttern und Waschen eingesetzt. In Südkorea riss ihre Migration eine Pflegelücke, sodass in Krankenhäusern auf dem Land die medizinische und pflegerische Betreuung nicht aufrecht erhalten werden konnte. Angesichts der Krise von 1977 forderte die deutsche Regierung die Migrantinnen dann zur Rückkehr auf.(11)
Hier wurde eine Notsituation transnational verschoben: eine Versorgungslücke in einem wohlhabenden Land wird durch den Abzug von Sorgekapazitäten aus einem weniger wohlhabenden Land gestopft, dadurch aber gleichzeitig eine Lücke im Herkunftsland der Migrantinnen gerissen. Dieses Muster wiederholt sich heutzutage für verschiedenste Sorgebereiche. 85 % der philippinischen Krankenschwestern arbeiten im Ausland, 20 000 hochqualifizierte Ärzte und Krankenschwestern verlassen jährlich das südliche Afrika, häufig in einem Kaskadeneffekt. Die Lücke, die in Südafrika durch Abwanderung von Fachkräften nach Großbritannien entsteht, wird durch Anwerbung von Fachkräften aus Zimbabwe und Kuba gefüllt (12).
Ebenso reißt der care drain durch Migrantinnen aus dem Süden und Osten, die im Norden als niedrigentlohnte Putzhilfen, Kinderfrauen und Altenpflegerinnen arbeiten, eine Sorgelücke in den Privathaushalten. Die Migrantinnen überlassen in diesen transnationalen Sorgeketten die Betreuung eigener Kinder ihren Töchtern, Schwestern oder gegen ein paar Cents Nachbarinnen, während sie im Norden fremde Kinder wickeln und hüten. Ehrenreich, Hochschild und Parrenas haben diese Export-Import-Verschiebungen von Sorgearbeit „globale Sorgekette“ genannt (13), auch als Analogie zu den globalen Wertschöpfungsketten in der Produktion und im Handel von Gütern.
Ob nun Frauen vom Land oder aus den Slums in mittelständischen Haushalten in der Stadt oder Migrantinnen aus den Philippinen in Hongkong, Saudi Arabien oder Italien als Hausangestellte oder Krankenschwestern arbeiten – immer werden Versorgungsleistungen von ärmeren in wohlhabendere Haushalte, von armen in reiche Länder verschoben, und dadurch die Sorgeökonomie im Herkunftsland geschwächt und eine Notsituation erzeugt (14). In der Aneignung von Sorgekapazitäten in diesen transnationalen Versorgungsketten manifestiert sich ein neokoloniales Machtverhältnis zwischen Norden und Süden, und eine neofeudales Machtverhältnis zwischen ArbeitgeberInnen und Hausangestellten. Gleichzeitig wird die geschlechtsspezifische Zuschreibung von Sorgepotentialen an Frauen bestätigt.
Die Legalisierung des temporären Aufenthalts und der zirkulären Migration von Pflegepersonal durch Einreisebestimmungen, Anerkennung der Qualifikationsabschlüsse anderer Länder oder die Einführung von Arbeitstandards und von Sozialversicherungspflicht sind notwendige politische Voraussetzungen, um die Arbeits- und Lebenssituation der migrantischen Sorgearbeiterinnen in Richtung auf eine Gleichstellung auf dem Markt zu verbessern. Die Politik sichert durch diese Maßnahmen die Versorgung im eigenen Land und legalisiert die transnationale Neuverteilung von Sorgearbeit – ungeachtet der sozialen Kosten, die dadurch für die MigrantInnen und die Sorgeökonomie des Herkunftslandes entstehen. Die Notsituation wird mithilfe des Imports von Sorgearbeiterinnen exportiert. Migration und Globalisierung brechen somit die Hierarchie von effizienzorientierter und sorgeorientierter Arbeit ebenso wenig auf wie soziale und Nord-Süd-Hierarchien. Im Gegenteil: Marktintegration, transnationale Verschiebung und Ethnisierung von Sorgearbeiten verstärken die geschlechtsspezifische Zuschreibung und Geringbewertung dieser Arbeiten. Migrationspolitische Maßnahmen wirken dem nicht entgegen.
Die Ökonomie auf die versorgenden Füße stellen
Die Politik bemüht sich mit dem Maßnahmenmix von Transferleistungen wie Elterngeld, dem gesetzlichen Anspruch auf öffentliche Kitas und einem Markt für Familien-Dienstleistungen um eine Re-organisation der sozialen Reproduktion im Dienste einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, deren oberstes Ziel Standortsicherung, Wachstums- und Wettbewerbsfähigkeit ist. Trotz vollmundiger Ankündigungen und Rechtsansprüche ist der deutsche Staat nicht in der Lage, die Mittel bereitzustellen, um öffentliche Einrichtungen auszubauen. Die Realpolitik scheitert hier an der öffentlichen Armut, die sie allerdings selbst durch neoliberale Maßnahmen wie eine verfehlte Steuerpolitik im Dienste der Investitionsförderung erzeugt hat. Im Zuge einer Demokratisierung müssen BürgerInnenhaushalte mit Gender Budgets darüber entscheiden, wo die Kommune oder der Staat investiert und wo de-investiert wird, wie das Gemeinwohl und öffentliche Güter definiert und geschützt werden können, in welchem Verhältnis z.B. die materielle und die soziale Infrastruktur ausgebaut werden sollte und wie der öffentliche Sektor gestärkt und ausgebaut werden kann.
Dies verweist einmal mehr darauf, dass eine Umverteilung und Aufwertung von Sorgearbeit mit Veränderungen im Kleinen, Lokalen und Persönlichen beginnen muss, aber auch gleich das große Ganze der Ökonomie in den Blick nehmen muss. Bei der Re-organisation sozialer Reproduktion und von Sorgeökonomie geht es auch um eine Repolitisierung und eine Demokratisierung der Wirtschaft, von Arbeit, Konsum und sozialer Sicherheit. Aus feministischer Sicht müssen emanzipatorische Ansatzpunkte für eine solidarische Ökonomie darauf zielen, die Spaltung zwischen Produktion und sozialer Reproduktion zu überwinden.
Dies aber stellt die kapitalistische, geldzentrierte, ressourcen- und energieintensive Marktökonomie, die über die Politik in den westlichen Wohlfahrtsstaaten eng mit Beschäftigung, Wohlstand, Konsum und sozialer Sicherheit verknüpft ist, grundsätzlich in Frage. Sollen und müssen Wachstumszwang und Akkumulationsmotiv weiterhin die Antriebsfeder für das Wirtschaften und Arbeiten sein oder können Versorgung durch lokale Ressourcen und Binnenmärkte, Wohlbefinden und soziale Sicherheit jenseits der Wachstums- und Renditelogik der Märkte in den Vordergrund treten? Welchen Konsum und wie viele Ressourcen brauchen wir für ein gutes Leben? Welches Wachstum wollen wir, welchen Wohlstand?
Am Beispiel der Kinderbetreuung und Bildung wird deutlich, dass auch die Sorgeökonomie einem Wachstumskonzept folgt, aber einem menschlichen und sozial definierten Wachstum, während der Wachstumszwang der kapitalistischen Marktökonomie auf die Akkumulation von Geld, nämlich ein rein ökonomisches Wachstum zielt. Unter der normativen Maßgabe des guten Lebens für alle, sozialer und Geschlechtergerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit muss die Wirtschaft vom spekulativen Kopf auf die versorgenden Füße gestellt werden. Dazu muss sich einiges in den Köpfen der Menschen verändern und ein Werte- und Bewusstseinswandel mit einem Strukturwandel Hand in Hand gehen.
(1) Razavi, Shahra (2007): The Political and Social Economy of Care in a Development Context: Contextual issues, research questions and policy options, UNRISD, Geneva
(2) Polanyi, Karl (1977/1944): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Wien
(3) siehe den Beitrag von Maren Jochimsen
(4) Lutz, Helma (2008): Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen & Farmington Hills
(5) Folbre, Nancy (1994): Who Pays for the Kids? Gender and Structures of Constraint. London
(6) Esping-Andersen, Gosta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge
(7) siehe der Beitrag von Maria Kontos
(8) Sybille Frehr, VERDI, Stuttgart, am 29.1.2010 bei „Das andere Davos 2010“ in Basel
(9) siehe die Reflektionen zu Irritationen in sozialen Systemen und zu sozialem Wandel: Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt
(10) Der Soziologe Hans Bertram zitiert in Spiegelonline 30.4.09
(11) Sun-Ju Choi/You Jae Lee (o.J.) Umgekehrte Entwicklungshilfe - Die koreanische Arbeitsmigration in Deutschland, Goethe Institut Seoul, http://www.goethe.de/ins/kr/seo/pro/redigiert.pdf
Viele Krankenschwestern wollten nicht nach Südkorea zurückkehren und erklärten auf dem Kirchentag 1977 in Berlin: "Wir kamen, weil deutsche Krankenhäuser Personal benötigten, und wir haben Deutschland geholfen. Wir sind keine Handelsware. Wir gehen zurück, wann wir wollen".
(12) UNFPA (2006): Weltbevölkerungsbericht 2006. Der Weg der Hoffnung. Frauen und internationale Migration, Hannover, 30
(13) Ehrenreich, Barbara/ Hochschild, Arlie (eds) (2003): Global Woman. Nannies, Maids, and Sex Workers in the New Economy, New York; Parrenas, Rhacel Salazar (2003): Servants of Globalization. Women, Migration, and Domestic Work. Stanford
(14) Widding Isaksen, Lise/Sabasivan, Uma Devi/Hochschild, Arlie (2009): Die globale Fürsorgekirse, in: WestEnd, 6.Jg, Heft 2, 56-79