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Auf einem Auge blind? - ICC als Modell zur Verfolgung und Untersuchung von Sexualverbrechen?

Tuol Sleng - früher berüchtigtes Sicherheitsgefängnis 21 (S-21) der  Roten Khmer, heute ein Museum.

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Die Weiterentwicklung im internationalen Strafrecht in den letzten zwanzig Jahren ist beachtlich:
Verschiedene internationale oder hybride Gerichte wurden eingerichtet und der Internationale Strafgerichtshof feiert dieses Jahr sein 10-jähriges Bestehen. Viel Rechtsprechung und Forschung füllt inzwischen die Regale der Bibliotheken. Auf UN-Ebene sind zahlreiche Resolutionen verabschiedet worden, die Maßnahmenkataloge zur Bekämpfung von sexueller Gewalt - im Besonderen gegen Frauen und Mädchen - im Kontext von bewaffneten Konflikten vorsehen.

Jedoch sind im Hinblick auf die Ermittlung und Verfolgung von sexueller Gewalt als internationale Verbrechen weiterhin erhebliche Defizite festzustellen. Dies hat eine Reihe von Gründen und Ursachen, denen ich mit Blick auf die Ermittlungen von sexueller Gewalt vor dem ECCC (Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia), aber auch dem ICC nachgehen will. Im Jahre 2006 führte die Staatsanwaltschaft beim ECCC die ersten Vorermittlungen aufgrund umfangreichen Materials, das vor allem das Documentation Center of Cambodia (DC Cam) zur Verfügung stellte. Das Ergebnis dieser Ermittlungen war: Sexuelle Gewalt kam nicht vor. Dieses Ergebnis beruhte auf der falschen und unüberprüften Annahme, dass die Khmer Rouge, bei ihrem Versuch ein kommunistisches Agrarland aufzubauen, zwar mit brutalen Mitteln gegen Gegner und vermeintliche Feinde vorgingen, sexuelle Gewalt jedoch verboten war und folglich streng verfolgt und bestraft wurde.

Deshalb waren die Untersuchungsrichter 2007 nicht mit der Ermittlung von sexuellen Straftaten befasst, und entwickelten in dieser Hinsicht auch keine Eigeninitiative. Zu dieser Zeit existierten nur sehr wenige Studien zu sexueller Gewalt unter den Khmer Rouge, die keinen großen Bekanntheitsgrad erlangt hatten. Erst 2008 wurden die ersten Opfer als NebenklägerInnen zugelassen. Einige reichten bald Anträge ein, in denen sie detailliert die Umstände und den Ablauf ihrer Zwangsheiraten beschrieben.

Doch was verbirgt sich hinter diesen Zwangsheiraten? Alle HistorikerInnen und ForscherInnen zu der Periode der Herrschaft der Khmer Rouge (ganz überwiegend männlich) haben diese bevölkerungspolitische Maßnahme erwähnt. Diese dienten dazu die Bevölkerung nach Klassenzugehörigkeit zu verheiraten und die Fortpflanzung zu kontrollieren. Ziel war es, innerhalb von 15-20 Jahren die Bevölkerung zu verdreifachen und neue revolutionäre Menschen zu schaffen, die nicht mehr in den alten politischen und kulturellen gesellschaftlichen Strukturen verhaftet waren.

Durch die Berichte von Opfern wurde klar, dass diese Zwangsheiraten im ganzen Land systematisch organisiert wurden. Männer und Frauen wurden in Gruppen von 2 - 300 Paaren zusammengeführt und nach einer kurzen politischen Ansprache zu Mann und Frau erklärt. Sie wurden angewiesen, die Nacht miteinander zu verbringen. Viele der Männer erhielten direkte Order mit ihren neuen Ehefrauen Geschlechtsverkehr zu haben. Zahlreiche von ihnen wurden dabei von Khmer Rouge Soldaten kontrolliert, die in der Nacht unter den Häusern der neuen Ehepaare postiert wurden. Wurde die Ehe nicht vollzogen, wurden Umerziehungsmaßnahmen eingeleitet, manche
inhaftiert, einige auch umgebracht. Die Heiraten wurden im Namen von „Angkar“ (Khmer: Organisation) durchgeführt. Dahinter verbarg sich Pol Pot und das Ständige Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Kambodschas. Angkar gab vor, die Eltern zu ersetzen und legitimierte sich dadurch selbst, die Heiraten zu organisieren.[1]

Auch wenn dies allgemein bekannt war, haben die Ermittlungsbehörden beim ECCC Zwangsheiraten lange ignoriert oder eben einfach nur „übersehen“ und nicht als massenhafte und systematische Verbrechen an der Zivilbevölkerung bewertet und (an-) erkannt.

Erst durch die Initiative der Nebenklage konnte erreicht werden, dass Zwangsheiraten in die Ermittlungen aufgenommen und schließlich Gegenstand der Anklage in Fall 002 beim ECCC wurden. Allerdings ist die derzeitige rechtliche Qualifizierung als Zwangsheirat und sexuelle Gewalt als „anderer unmenschlicher Akt“ unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer noch unzureichend und berücksichtigt nicht alle Aspekte, wie z.B. die daraus resultierenden Schwangerschaften und sexuelle Sklaverei.

Dennoch kann dies als Erfolg gewertet werden - jedenfalls bis September 2011. Die Hauptverhandlungskammer hat am 22. September 2011 den Fall 002 abgetrennt und verhandelt lediglich die zwei ersten Zwangsumsiedlungen. Dies ist einmal die Umsiedlung der gesamten Bevölkerung von Phnom Penh aufs Land am 17. April 1975 und in einer zweiten Phase (Ende 1975 bis 1976/Anfang 1977) die Zwangsumsiedlung der Bevölkerung vom Süden/Südwesten in den Norden/Nordwesten.

Obwohl die Opfer von Zwangsheirat die mit Abstand zweitgrößte Gruppe der NebenklägerInnen darstellt, hat die Kammer deutlich gemacht, dass dieses Verbrechen keine Priorität hat. Der Anklagevorwurf „Zwangsheiraten“ ist auf ungewisse Zeit verschoben und wird angesichts des hohen Alters der Angeklagten wahrscheinlich nie verhandelt.

Heiraten, die unter Zwang zustande kommen, gelten immer noch als Verbrechen zweiter Klasse, und dies umso mehr, wenn das Paar noch heute zusammen ist. Diese Konstellation stößt auf Unverständnis, auch bei internationalen MitarbeiterInnen im Gericht und zeigt deutlich die Unkenntnis über Kontext und Hintergrund dieses Verbrechens, das bis heute verheerende Auswirkungen auf die kambodschanische Gesellschaft hat. Der ECCC hat vorerst die Chance vertan, diesem Verbrechen die gehörige Wichtigkeit und Priorität einzuräumen und damit ein Zeichen zu setzen.

Vergewaltigungen außerhalb des Kontextes von Zwangsheirat wurden überhaupt nicht systematisch ermittelt. Einige wenige Fälle von Vergewaltigungen, die eher als Nebenprodukt der Ermittlungen zu Tage traten, wurden zwar als Fakten in die Anklage aufgenommen, aber die Angeklagten werden für diese Vergewaltigungen nicht verantwortlich gehalten. Nach Ansicht der Untersuchungsrichter waren Vergewaltigungen keine offizielle „Policy“ der Khmer Rouge. Auch seien sexuelle Verbrechen verfolgt worden, wenn sie bekannt wurden. Die Untersuchungsrichter sahen nicht oder wollten nicht sehen, dass Vergewaltigungen im Rahmen der Politik gegen den Feind regelmäßiger Bestandteil der Behandlung derjenigen war, die bereits 'entmenschlicht' waren: Einmal zum Feind erklärt, konnte man mit ihnen machen, was man wollte: misshandeln, foltern, töten – und auch
vergewaltigen.

Es stellt sich die Frage: Warum wurde sexuelle Gewalt nicht systematisch ermittelt?

Ein Blick auf die jüngsten Ergebnisse einer Basisstudie (2012) zu Gender-Sensibilität und - Kompetenz zeigt u.a. folgendes: Nur 29 Prozent der internationalen UN-Mitarbeitenden sind Frauen, in Führungspositionen liegt ihr Anteil bei lediglich 25 Prozent, und unter allen nationalen und internationalen MitarbeiterInnen sind nur 17 Prozent Frauen. Fast niemand der Befragten hatte solides Wissen über Geschlechtergleichberechtigung und die Bedeutung der einschlägigen UNResolution in Bezug auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen im bewaffneten Konflikt für die Arbeit beim ECCC. Institutionalisiertes Training fehlt; Kompetenz in Bezug auf Geschlechterrollen und - bewusstsein ist kaum vorhanden. Die meisten Interviewten gaben an, dass sie zu Unparteilichkeit und Nichtdiskriminierung verpflichtet seien und deshalb eine geschlechterspezifische Orientierung ausgeschlossen sei.

Der Anteil an kompetenten Frauen war zu Beginn der Ermittlungen 2006 noch geringer. Eine der Hauptursachen der mangelnden und/oder mangelhaften Ermittlungen von sexueller Gewalt beim ECCC liegt vor allem darin begründet, dass diese Ermittlungen nicht Bestandteil der staatsanwaltschaftlichen Strategie waren. Dies liegt vor allem an fehlendem Wissen und Bewusstsein über sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten und Hintergründe und Struktur sexueller Verbrechen sowie dem fehlenden politischen Willen Ermittlungen wegen sexueller Gewalt
mit Priorität aufzunehmen. Dabei spielt die Auswahl der MitarbeiterInnen des Gerichts und die mangelnde Institutionalisierung von Gender-Kompetenz eine herausragende Rolle. Nicht hinterfragte Stereotypen, wie die angebliche Schwierigkeit der Ermittlungen von Sexualstraftaten, die vorgebliche Schonung der Opfer und ihr Schutz vor sekundärer Traumatisierung durch Vernehmungen, sind von weiterer Bedeutung und sollen fehlende Ermittlungen nach außen rechtfertigen.

Im ECCC wurden keine Versuche unternommen, weibliche Dolmetscherinnen für Khmer und weibliche Ermittlerinnen mit Gender-Kompetenz einzustellen. Auch andere Forderungen der Nebenklage, beispielsweise die internen Regeln im Hinblick auf adäquate Bedingungen der Behandlung von Sexualstraftaten zu ändern, wurden ignoriert.

Wie sieht die Lage im Hinblick auf den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) aus? Ist der
Gerichtshof ein Modell für die Ermittlung und die Behandlung von Sexualstraftaten?

Zunächst ein paar Zahlen aus dem Jahr 2011: Nur 35 Prozent der leitenden Posten bei der Staatsanwaltschaft (P4 und P5) sind mit Frauen besetzt; die Feldbüros sind zu 80 Prozent mit Männern besetzt; 36 Prozent der Opfer, denen das Büro für Opferrechtsbeistand assistierte, sind weiblich; Outreach-Aktivitäten erreichten 26 Prozent weibliche Personen; auf der Expertenliste von Ermittlern befinden sich 27 Männer und eine Frau; die spezielle Beraterin der Staatsanwaltschaft in Gender-Fragen arbeitet lediglich pro bono; in 7 von 13 Situationen gehört sexuelle Gewalt zu den Vorwürfen; 13 von 27 Beschuldigten werden Sexualstraftaten vorgeworfen. [2]
Das Statut des IStGH hat einen sehr breiten Katalog von Sexualstraftaten sowohl als Kriegsverbrechen als auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen. Erstmals ist Gender Bestandteil von Verfolgung (persecution).

Prozessrechtlich existieren Beweisregeln für Fälle sexueller Gewalt. Der Schutz von (Opfer-) Zeuginnen von Sexualstraftaten hat Priorität.

Doch wie sieht es in der Realität aus?

Das erste Verfahren vor dem IStGH (./. Lubanga) fokussiert nur auf den Gebrauch von Kindersoldaten (unter 15 Jahren) und ignoriert die Rekrutierung von Mädchen und ihre Benutzung und Ausbeutung als sexuelle Sklaven. Der Versuch der RechtsvertreterInnen der Opfer scheiterte, diesen Aspekt als Bestandteil der Vorwürfe mit einzubeziehen. Aussagen von betroffenen Zeuginnen zu sexueller Ausbeutung konnten deshalb nicht in die Verurteilung mit aufgenommen werden. Die Staatsanwaltschaft hatte es versäumt diesen Aspekt in ihre Strategie aufzunehmen und selbst im Nachhinein die Anklage nicht geändert.

Aber auch in den anderen Fällen vor dem IStGH, in denen Sexualstraftaten Gegenstand der Ermittlungen sind, erreichen diese im Verlauf des Verfahrens, im Verhältnis zu anderen Straftaten, in relativ geringerem Maße das Hauptverfahren.

Dies hat verschiedene Ursachen [3]:

  • Mangel an ausreichenden Beweisen, die die Behauptungen sexueller Gewalt belegen; (Democratic Republic of the Congo in: Katanga & Ngudjolo) oder nicht für alle Regionen, für die diese Gewalttaten seitens der Staatsanwaltschaft behauptet werden; (Kenya in: Muthaura et. Al;)
  • Alleiniger Bezug auf UN oder NGO Berichte, anstelle auf Erste-Hand-Zeuginnen Bezug zu nehmen; (Central African Republic in: Bemba and Darfur in: Abu Garda
  • Kumulative Vorwürfe werden erhoben, aber die unterschiedlichen Tatbestandsmerkmale werden nicht belegt; (Central African Republic in: Bemba) - Bestimmte Fakten werden nicht als Sexualstraftat gewürdigt (erzwungene Nacktheit) (Central African Republic in: Bemba)
  • Vorwürfe werden von der Staatsanwaltschaft nur als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber nicht als Kriegsverbrechen charakterisiert (korrigiert von der Vorverfahrenskammer); (Côte d'Ivoire in: Gbagbo)
  • Fakten sind unrichtig rechtlich charakterisiert; (Kenya in: Muthaura et. al)

 

 

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass ein Drittel aller Sexualstraftaten nicht von der Vorverfahrenskammer bestätigt wurden (Stand 2011).

Der IStGH kann also (noch) nicht als Modellgericht für die Verfolgung sexueller Gewalt angesehen werden. Gerade im Hinblick auf die Art von Vorwürfen ist zu beobachten, dass diese Verbrechen überproportional häufig unzureichend ermittelt wurden.

Um tatsächlich die angemessene Berücksichtigung und Verfolgung durch den IStGH zu gewährleisten, ist folgendes notwendig:

 

  • Erstellung einer detaillierten Gender- Strategie;
  • Gender- Kompetenz und laufende Fortbildung der Mitarbeitenden;
  • Vollzeitbeschäftigung der Gender- Beraterin;
  • Sorgfältige Ermittlungsarbeit.

Es ist also noch einiges zu tun, bis die Ermittlung von internationalen sexuellen Verbrechen als erfolgreich gelten kann und der Straflosigkeit in diesem Bereich entgegen gewirkt wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


Fußnoten:

 

[1] Eine detaillierte Beschreibung der Zwangsheiraten ist zu finden in folgendem Artikel: Beini Ye (2011): Forced Marriages as Mirrors of Cambodian Conflict Transformation, Peace Review, 23:4, 469-475.
[2] Zusammengefasst anhand der wertvollen Auflistung von Women's Initiatives for Gender Justice, Gender Report Card on the International Criminal Court 2011 at http://www.iccwomen.org/publications/index.php
Insgesamt lässt sich festhalten, dass es nicht an ausreichenden Vorschriften mangelt, um sexuelle
Verbrechen zu ermitteln und anzuklagen.
[3] Zusammengefasst anhand der wertvollen Analyse von Women's Initiatives for Gender Justice, Gender Report Card on the International Criminal Court 2011 at http://www.iccwomen.org/publications/index.php