Im März dieses Jahres hat das Europäische Parlament (EP) überraschend ein neues Kapitel in der Entwicklung seiner sozialen Agenda aufgeschlagen, indem es einen Geschlechtergleichstellungsbericht ablehnte, der die negativen Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die Frauen hervorhob (http://guengl.eu/news/article/shameful-rejection-of-progressive-report-on-gender-equality). Wenn man auf VoteWatch Europe geht, sieht man, dass das EP Anträge und Strategien im Bereich Geschlechtergleichstellung tendenziell eher nicht ablehnt.
Die Ablehnung der Geschlechtergleichstellungsstrategie versinnbildlicht jedoch die Spannungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU, welche die Verfechter von Frauenrechten seit Ausbruch der Finanzkrise umtreiben. Bis dahin hatte sich die EU als unangefochtener Wegbereiter für Geschlechtergleichstellung hervorgetan und immer weiter entwickelte und fortschrittlichere Geschlechterpolitiken seit ihrer Gründung in den 1950er Jahren verabschiedet und entsprechend umgesetzt. Unter den Institutionen der EU war das EP oft ein Vorreiter und drängte auf die progressivsten Geschlechtergleichstellungspolitiken.
Warum hat sich das EP 2014 plötzlich geweigert zuzugeben, dass Frauen von der Krise besonders schwer betroffen sind? In vielerlei Hinsicht hat die politische Niederlage im letzten Monat einige strukturell-inhärente Widersprüche aufgezeigt, die die Finanzkrise schrittweise an die Oberfläche gebracht hat.
Die Arbeit der EU basiert seit jeher auf der Prämisse, dass wirtschaftliche Integration zu einer Reihe positiver Ergebnisse führen kann, u.a. zu Frieden, Stabilität und Wohlstand. Die Logik dahinter sieht ungefähr folgendermaßen aus: Der Abbau von Handelshemmnissen führt zu mehr Handel, Wohlstand und Kooperation. Wirtschaftliche Integration treibt daher tendenziell die Aktivitäten der EU an, auf Kosten der Lösung schwieriger politischer Fragen wie zum Beispiel „Wer sind die Gewinner und Verlierer?“.
Die Frauenerwerbsquote und wirtschaftliche Unabhängigkeit stellten vor der Finanzkrise eine Leitplanke für die wirtschaftlichen Ambitionen der EU dar. Die im Vertrag von Maastricht festgeschriebenen Vorbereitungen auf den Europäischen Binnenmarkt gingen einher mit einer neuen Beachtung für sozialpolitische Themen und wurden durch Richtlinien zur Teilzeitarbeit, Elternzeit und Schwangerschaft untermauert. Ende der 1990er Jahre verpflichtete sich die Europäische Kommission zu Gendermainstreaming: Sämtliche Politiken und deren Auswirkungen auf Frauen und Männer waren von da an entsprechend zu prüfen (Mitteilung der Kommission von 1996: Einbindung der Chancengleichheit in sämtliche politischen Konzepte und Maßnahmen der Gemeinschaft). In den 1990er Jahren beinhalteten dann die weiter gefassten sozial- und umweltpolitischen Ziele der Strategie von Lissabon (2000) eine Verpflichtung zu Gender Mainstreaming sowie ehrgeizige Ziele, um die Erwerbsquote von Frauen auf 60% zu erhöhen. Vermehrte Kinderbetreuungseinrichtungen und besser aufeinander abgestimmte Arbeits- und Familienpolitiken wurden gefördert, um das letztgenannte Ziel zu erreichen.
Die Mitgliedstaaten einigten sich darauf, „Fehlanreize für die Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen zu beseitigen und bestrebt zu sein – unter Berücksichtigung des Bedarfs an Kinderbetreuungseinrichtungen und im Einklang mit nationalen Leistungsstrukturen – bis 2010 für mindestens 90 % der Kinder zwischen drei Jahren und dem Schulpflichtalter und für mindestens 33 % der Kinder unter drei Jahren Kinderbetreuungsplätze bereitzustellen” (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-495_de.htm). Diese sogenannten Barcelona-Kinderbetreuungsziele wurden zu einem Herzstück der Strategie von Lissabon. Gleichzeitig hielt die EU-Kommissarin für Beschäftigung und Soziales, Diamantopoulous, Vorträge über die Doppelbelastung von Frauen und die dadurch entstehenden Hindernisse beim Zugang zum Arbeitsmarkt.
Somit waren Schritte zur Förderung der Frauenerwerbsquote, die zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen führen könnten, gekennzeichnet durch ein Bewusstsein für die Verbindung zwischen den unbezahlten Betreuungsaufgaben der Frauen, zumindest was die Kinder anging, und ihrer Fähigkeit zu arbeiten. Ebenso beschäftigte sich die Politik fortan mit dem Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit.
Als dann Halbzeitbilanz gezogen wurde, erwies sich die Strategie von Lissabon allerdings als nicht sonderlich erfolgreich beim Erreichen ihrer Ziele. Daraufhin wurde sie überarbeitet und in der Neufassung des Textes wurden die sozialen Ziele und Gender Mainstreaming durch einen Fokus auf Innovation, Wachstum, Arbeitsplätze und Flexicurity ersetzt – eine „integrierte Strategie zur gleichzeitigen Stärkung von Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt“ (KOM (2007) 359 endgültig, S. 5.).
Die gewachsene Erkenntnis, dass Beschäftigungsbedingungen und Zugang zu (staatlicher) Kinderbetreuung Auswirkungen auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen haben, begann daher nach 2005 wieder abzuflauen. Gleichzeitig bemerkten die Befürworter von Geschlechtergleichstellung innerhalb der GD Beschäftigung, dass sie immer weniger Zugang zu und Einfluss auf die Politikgestaltung bekamen (Colie und Galligan, 2015 erscheinend). Kritiker (z.B. Hubert 2012) behaupteten, dass die neuen „Flexibilisierungspolitiken“ zu einer Verbreitung von Teilzeit- und Kurzzeitverträgen zu schlechten Arbeitsbedingungen führen würden. Diese würden vorwiegend von Frauen übernommen werden und eine neue Klasse von armen Beschäftigten, hauptsächlich Frauen, erzeugen.
Seitdem die von der EU Kommission unterstützte Austeritätspolitik dem Einhalten der strengen fiskalpolitischen Regeln Priorität eingeräumt hat, sind die Mitgliedsstaaten eifrig darauf bedacht, ihre Ausgaben zu kürzen.
Viele Mitgliedsstaaten haben dies durch Kürzungen im Gesundheitswesen, bei der Kinderbetreuung und bei öffentlichen Dienstleistungen erreicht, was vor allem diejenigen besonders trifft, die am stärksten auf diese Bereiche angewiesen bzw. in ihnen tätig sind – die Frauen. Veröffentlichungen der GD Justiz haben gezeigt, wie diese Kürzungen die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen beeinträchtigt haben und wie Kürzungen im Bereich der Infrastruktur für Gleichstellungspolitik (z.B. Geschlechtergleichstellungsministerien) die Vertretung ihrer spezifischen politischen Bedürfnisse und Interessen verschlechtert haben.
Viele PolitikwissenschaftlerInnen, die Gender- und volkswirtschaftliche Themen untersucht haben (AutorInnen wie Isabella Baker und Steven Gill, Elizabeth Klatzer und Christa Schlager, Dianne Perrons, Jil Rubery, Catherin Hoskyns) bringen vor, dass diese Austeritätspolitiken und Konzepte wie Flexicurity einen entscheidenden Fehler im vorherrschenden Wirtschaftsdenken zu Tage fördern – nämlich, dass wir die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Elementen der Wirtschaft nicht verstehen.
Indem bezahlte Arbeit als Beitrag zur Volkswirtschaft, Pflege- und Betreuungsaufgaben jedoch als Kosten oder Belastung angesehen werden, wird der wirtschaftliche Beitrag von Frauen durch Pflege-und Betreuungsleistungen schlichtweg unsichtbar gemacht. Ferner werden Politiken umgesetzt, die auf die verstärkte Erwerbstätigkeit von Frauen setzen, ohne jedoch Ausgleichsmaßnahmen zu ergreifen, um die dadurch entstehende Betreuungslast aufzufangen.
Die Auflösung des Spannungsfeldes zwischen unserem fortdauernden Bedürfnis nach Reproduktion und Betreuung der Kinder und Alten, einerseits, und den Bestrebungen, die Erwerbsquote von Frauen zu erhöhen, andererseits, könnte sich als äußerst zerstörerisch erweisen. Dies belegen Schilderungen von AktivistInnen, die versuchen, Gender Budgeting zu fördern, das oftmals darum bemüht ist, den Aspekt der sozialen Reproduktion in makroökonomische Modelle einzuspeisen (siehe Hoskyns 2004).
Wie stehen nun die EU Mitgliedsstaaten zur Kollektivierung oder ‚Marketisierung‘ der Fürsorge und Pflege? Würden die Familien derartige Schritte akzeptieren? Vor dem Hintergrund des umstrittenen politischen Wesens dieser Art von Fragen und der Komplexität der derzeitigen wirtschaftlichen Herausforderungen überrascht es nicht, dass Politiker sich weigern, den besonderen Druck, dem Frauen seit der Krise ausgesetzt sind, zu akzeptieren bzw. zu lindern. Dass GeschlechtergleichstellungsaktivistInnen aufgeben, ist jedoch eher unwahrscheinlich, zumindest im Moment noch.
Die Weigerung, eine Politik zu verabschieden oder Äußerungen abzugeben, die explizit die unterschiedlichen Auswirkungen der Finanzkrise (und der entsprechenden Sanierungspolitiken) auf Männer und Frauen anerkennen, ist somit erwartungsgemäß ein Prüfstein für weitere wirtschaftliche Spannungen. Diese Spannungen treten jedoch innerhalb der EU sehr viel deutlicher zu Tage, was der beneidenswerten Geschichte der Bekämpfung von Geschlechterungleichheit und der Förderung der Erwerbsquote von Frauen geschuldet ist.
Es scheint jedoch, dass die Herausforderungen, vor denen GleichstelluungsaktivistInnen heute stehen, wenn sie Politiker dazu drängen, den Beitrag der Frauen zur Wirtschaftsleistung anzuerkennen und auf ihre wirtschaftlichen Belange einzugehen, durch die Finanzkrise und Austeritätspolitik noch deutlich verstärkt wurden.
Literaturverzeichnis:
Francesca Bettion, Marcella Corsi, Carlo DIppoliti, Antigone Lyberaki, Manuela Samet Lodovici und Alina Verashchagina. 2012. The impact of the economic crisis on the situation of women and men and on gender equality policies, Synthesis Report, GD Justiz Unit D2. Verfügbar unter: http://ec.europa.eu/justice/gender-equality/files/documents/130410_crisis_report_ en.pdf
Coley und Galligan (erscheint 2015) ‘Europe 2020: Prospects for realising gender equality in the post-crisis period’, European Integration Online Papers.
Europäische Kommission (2007). Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschaft- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Towards Common Principles of Flexicurity – More and better jobs through flexibility and security, Brussels : COM (2007) 359 final (27.6.207)
Hoskyns, C., 2004. Mainstreaming Gender in the Macroeconomic Policies of the EU - Institutional and Conceptual Issues. In Paper prepared for the ECPR conference, Bologna June 2004. S. 24–26.
Hubert, Agnès (2012). Gendering employment policy: from equal pay to work-life balance, S. 146-168 in Abels, Gabriele and Mushaben, Joyce M. (eds.) Gendering the European Union. New Approaches to Old Democratic Deficits. Basingstoke: Palgrave Macmillan.