Indianara Siqueira: "LSBTTIQ* werden in Brasilien zu Feinden erklärt"

Interview

Indianara Siqueira spricht im Interview über Rechte von trans, den Rechtsruck in der Regierung, den kleiner werdenden Handlungsspielräumen der Zivilgesellschaft sowie alltägliche und strukturelle Diskriminierung von LSBTTIQ* in Brasilien.

Indianara Siqueira mit einem Megafon auf einer Demonstration
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Indianara Siqueira während einer Demonstration

Indianara Siqueira ist Sexarbeiterin, Feministin, transgender und Vertretungs-Beigeordnete der sozialistischen Partei PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) in Rio de Janeiro, Brasilien. Als Aktivistin war sie auf lokaler Ebene in der Gruppe TransRevolução aktiv, die Trans* unterstützt, organisiert seit 2011 den jährlich stattfindenden Marcha das Vadias („Slutwalk“) mit und gründete das Casa Nem, einen Zufluchtsort für LSBTTI* im Zentrum Rio de Janeiros. Siqueria ist Teil des im Mai 2017 initiierten Fórum de Travestis, Mulheres, Transexuais e Homens Trans (FTTRJ) des Bundesstaates Rio de Janeiro. Außerdem schreibt sie seit kurzem eine Kolumne bei dem unabhängigen Onlinemedium Mídia Ninja.

Frau Siqueira, Angleichungsoperationen für trans* sind in Brasilien gratis und gesetzlich gesichert. Das klingt erst einmal sehr unkompliziert. Ist dieses Recht in der Praxis wirklich garantiert oder existiert es nur auf dem Papier?

Transsexuelle und Transgender werden von der Weltgesundheitsorganisation als mental krank eingeordnet. Die „Behandlung“ für diese sogenannte Krankheit ist eine geschlechtsangleichende Operation. Nur kann nicht einfach so von der betroffenen Person beschlossen werden, dass sie ihr Geschlecht operativ angleichen lässt. Zwei Jahre lang müssen Personen in Begleitung von Psycholog*innen beispielsweise das Gender „Frau“ performen, damit sie dann am Schluss sagen können: Ja, du bist wahrhaftig transsexuell.

Ob eine Anpassungsoperation durchgeführt wird, beschließen also nicht wir selbst, sondern Mediziner*innen in ihren Befunden. Das brasilianische Gesundheitssystem Sistema de Saúde (SUS) ermöglicht allenfalls den angleichenden Prozess. Es entscheidet, dass bei trans Männern die Brüste entfernt werden und bei Frauen der Penis und die Hoden. Kein einziges Gesetz gewährleistet, dass wir selbst entscheiden können, wer wir sein wollen.

Es ist auch möglich, ohne operativen Eingriff den Eigennamen auf den eigenen Papieren zu ändern. Wie sieht es mit dessen praktischer Anwendung aus?  

Nein, das stimmt nicht. Die Änderung des Eigennamens erlaubt das Gesetz leider nicht. Es gibt in Rio de Janeiro, São Paulo, Recife und einigen anderen Orten Dekrete, die besagen, dass alle öffentlichen Organe verpflichtet sind, Transgender und Transsexuelle mit dem Namen zu bezeichnen, den sie selbst gewählt haben. Aber nicht alle respektieren das. Das Geschlecht wird in den Dokumenten nur geändert, wenn es eine angleichende Operation gibt.

Allerdings gab es gerade eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes, die besagt, dass Transsexuelle und Transgender, die ihren Namen ändern wollen, nicht dazu verpflichtet sind, ihre Genitalien anpassen zu lassen. Jetzt soll es möglich sein, den Namen und das Geschlecht in den Dokumenten ändern lassen zu können. Das ist schon ein gewisser Fortschritt. Trotzdem ist es bislang zum Beispiel so, dass es Gesetze gibt, die es Personen des öffentlichen Lebens ermöglichen, ihren Namen zu ändern.

Lula, der ehemalige brasilianische Präsident, kann einfach zum Amt gehen und sagen: Ich bin Lula. Sein Name wird dann in die Dokumente aufgenommen. Für Transgender und Transsexuelle ist das nicht so einfach. Trans müssen Personen mit zum Amt nehmen, die beweisen können, wer sie wirklich sind. Außerdem wird angenommen, dass Personen, die ihren Namen ändern wollen, auch ihre Genitalien ändern wollen. Das ist nicht immer der Fall. Wir haben in den Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Piauí und Rio de Janeiro Fortschritte bezüglich des Eigennamens gemacht, aber die Anerkennung des Genders ist immer noch schwierig.

Es gibt nicht nur auf der judikativen, sondern auch auf der legislativen Ebene Veränderungen in Brasilien. Im vergangenen Jahr gab es einen politischen Wechsel…

....einen Putsch.

Die Verwendung dieses Begriffes ist umstritten.

Das sollte so genannt werden. Es ist ein Putsch, bei dem konservative Politiker*innen eine linke Regierung entmachtet haben. Und nicht nur das: auch war es misogyn und sexistisch, denn Dilma Rousseff, die erste weibliche Präsidenten Brasiliens und eine Frau, wurde aus dem Amt gehoben, weil sie nicht die Politik verfolgt hat, die die Konservativen wollten: mehr Kapitalismus und mehr Zugang zur Macht für die Mittel- und Oberschicht und die Marginalisierung von Armen und Unterdrückten.

Meine Frage ist: wirkt sich dieser Rechtsruck negativ auf Personen aus, die trans, nicht-binär und/oder LGBI sind?

Ehrlich gesagt ist die aktuelle Regierung etwas überfordert. Mal werden Fortschritte beschlossen, mal Rückschritte. Beispielsweise gibt es nun die Schulreform Escola Sem Partido. Sie besagt, dass Genderidentitäten, vielfältige Sexualitäten und Homosexualität in den Schulen nicht mehr diskutiert werden dürfen, da Kinder dadurch angeblich zu LSBTI herangezogen werden. Es soll sogar nicht mehr über Sozialismus und Philosophie gesprochen werden. Es darf nicht mehr gedacht werden!

Andererseits ist Temers Regierung widersprüchlich: Marina Reidel wurde als Sekretärin für LSBTT-Rechte eingestellt – sie ist trans. Es scheint so, als ob sie sagen wollen: wir sind gar nicht so schlimm. Das finde ich heuchlerisch. Sie nehmen Arbeiter*innen, LGBT und Schwarzen Rechte weg und stellen gleichzeitig eine Frau, die trans ist, als Sekretärin ein. Es ist doch so: diejenigen, die am stärksten unterdrückt werden, werden am meisten leiden. Und das sind Frauen, Schwarze, LSBTIQ. Die Leute werden von diesem kapitalistischen System massakriert. Das ist nicht nur in Brasilien so, sondern weltweit.  

Hat sich neben dem Wandel in der politischen Sphäre auch das Klima im Alltag geändert?

Ja, es hat sich eindeutig verändert. Wenn Konservative an der Macht sind, fühlen Konservative sich repräsentiert, selbst, wenn sie aus den Peripherien und Favelas stammen. Der Unterdrücker wird bestärkt und der Unterdrückte leidet immer stärker.

Von 2015 bis 2016 wurden 123 trans* Menschen in Brasilien ermordet[1]. Das Land hat die höchste Trans*-Mordrate der Welt. Wird nicht genug gegen die Gewalt gegen LSBTIQ* getan?

Im Gegenteil: Es werden konträre Maßnahmen beschlossen, die immer mehr Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transvestiten, Transgender und Intersexuelle umbringen. Wenn Schulen sexuelle Diversität und Genderidentitäten nicht mehr diskutieren dürfen, wird eine gesamte Bevölkerungsgruppe negiert. Sie werden zu Feinden erklärt. Wenn zwei Menschen in der Grundschule befreundet sind und eine*r von beiden cisgender und konform lebt und die andere Person transitioniert, werden diese später zu Feinden. Denn die trans Person wird als etwas Falsches wahrgenommen, da sie in der Bildung nicht existiert hat. Das ist für beide schlecht. Die einen werden angegriffen und umgebracht, die anderen werden kriminell. Einer kommt ins Gefängnis, der andere auf den Friedhof. Was für eine Welt schaffen wir dadurch?

Anstatt, dass jede Person sein kann, was sie sein will, wird eine sexistische Norm reproduziert, die bereits in der Vergangenheit viele Frauen unterdrückt hat, indem sie Abtreibung verboten hat, es Frauen nicht ermöglicht wurde außerhalb des Hauses zu arbeiten, schwarze Frauen unterdrückt wurden, und so weiter.

eine Person mit einem gelben T-Shirt und langen Haaren spricht auf einer Demo in ein Megafon

Wie LSBTI-Menschen weltweit für ihre Rechte kämpfen.Verschärfte Gesetzesentwürfe, Diskriminierung und Gewalt: Dieses Dossier zeigt auf, welche Einschränkungen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*- und Inter*-Menschen (LSBTI) weltweit erfahren - und welche Gegenstrategien sie entwickeln.

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Müsste der internationale Druck auf Temers Regierung größer werden, um die Rechte von LSBTIQ* zu sichern?

Nicht alles, was aus dem Ausland kommt, ist auch gut für uns Transgender und -sexuelle. Der Modus Operandi in Deutschland muss nicht ideal für Brasilien sein. Es muss internationalen Druck geben, der Michel Temer als einen Putschisten anerkennt. Europa und der Großteil Nordamerikas sind kapitalistisch, weshalb sie das nicht tun werden. Die Länder Lateinamerikas und Afrikas sollten dies, in Berücksichtigung ihrer Unterschiede und Einzigartigkeit, in einen Kampf umwandeln. Staaten sollten minimal in die Leben der Menschen eingreifen, sodass Menschen frei sind.

Was sagen die Demonstrant*innen auf den Straßen, die Frauen und die unterdrückte Bevölkerung Brasiliens momentan? Sie sagen, dass Temer ein Putschist ist. Deshalb sollte der Rest der Welt das respektieren. Ich als unterdrückte Person, die aus einer Militärdiktatur kommt, weiß sehr genau, was ein Putsch ist. Der Kapitalismus ist für niemanden gut. Er verteidigt nur die Rechte von Unternehmen und Unternehmern. Europa macht das gleiche: die großen Marken tun, als würden sie Wert auf Arbeiter*innenrechte legen, beuten aber einfach nur auf anderen Kontinenten aus.

Wie zeigt sich die Ausgrenzung von Trans*, abgesehen von der Gewalt, der Eliminierung aus dem Lehrplan und der unzugänglichen Nutzung des eigenen Namens noch?

Die Ausgrenzung zeigt sich in vielen Bereichen der Gesellschaft. Das fängt an mit der Benutzung öffentlicher Toiletten: da gibt es meistens eine für Männer und eine für Frauen. Diese Einteilung zwingt Personen, sich für ein Geschlecht gemäß der binären Logik zu entscheiden. Auch in Familien, in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik findet Ausgrenzung statt. 2016 stellte ich mich als Beigeordnete Rio de Janeiros zur Wahl. Auf meinem Personalausweis steht „Sérgio“, mein Geburtsname. Ich musste durchsetzen, dass ich unter meinem Namen Indianara kandidieren konnte, dass dieser Name auch auf dem Wahlschein erscheint. Auch das ist eine Form der vielfältigen Gewalt, die uns Trans ständig betrifft.

Auch sind Sie Mitinitiatorin des Casa Nem, in dem Vorbereitungskurse auf die Hochschulzulassung ENEM angeboten werden. Wer wird da speziell unterstützt?

Das Angebot richtet sich an LSBTI in vulnerablen sozialen Situationen, insbesondere trans. Es gibt zahlreiche Vorbereitungskurse für die Hochschulzulassung ENEM. Wenn ich zum Beispiel an so einem Kurs teilnehme und andere Personen merken, dass ich LSBTI bin, werde ich dort gemobbt und diskriminiert. Wie will frau* und mann* lernen, wenn frau* und mann* ständig „Schwuchtel“ und „Kampflesbe“ genannt wird? Bei uns, in der Casa Nem, werden LSBTI für ihre Gender- und Sexualidentitäten respektiert. Es ist ein Ort, an dem sie frei von Unterdrückungen lernen können sollen, ein Ort der Dekonstruktion für eine bessere Welt und inklusivere Gesellschaft.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Caren Miesenberger. Es ist Teil unseres Dossiers "Wie LSBTI-Menschen weltweit für ihre Rechte kämpfen".

[1] Die seit 37 Jahren aktive “Grupo Gay da Bahia” dokumentiert auf ihrem Blog Todesfälle von LGBTTIQ* anhand von Medienberichten.