Die „Revolution der Würde“ kann auch aus geschlechterpolitischer Sicht als Zäsur für die Ukraine betrachtet werden. Gesellschaftliche Initiativen sind neu entstanden, Gender und Feminismus ist zum Thema auch in Mainstream-Medien geworden. Und auch politisch gibt es Erfolge vorzuweisen. Ein Veranstaltungsbericht zur geschlechterpolitischen Bilanz der Reformpolitik nach dem Maidan.
Gender on the rise
Mit 12% sind Frauen in der aktuellen, nach dem Maidan gewählten Verkhovna Rada so gut vertreten wie seit 2004 nicht mehr, berichtete Switlana Woitsechowska, Abgeordnete der Verchowna Rada und Ko-Vorsitzende der interfraktionellen Arbeitsgruppe „Gleiche Chancen“. Die Gruppe will die Gleichstellung auf verschiedenen Ebenen durchsetzen: im Parlament, in den Verwaltungen und Berufen, aber auch im Militär und in den Sicherheitsorganen. Als Orientierung gelten dabei Länder wie Kanada und Neuseeland im Hinblick auf Frauenquote, Gender-Mainstreaming und Gender-Budgeting.
Als die wichtigsten politischen Errungenschaften hebt Svitlana Woitsechowska hervor, dass Antidiskriminierung in der Ukraine im Arbeitsgesetzbuch mit mehr als 100 unterschiedlichen Erlassen verankert wurde wie beispielsweise die Aufhebung von Berufsverboten für Frauen in mehr als 450 Berufen, dass es inzwischen eine Frauenquote von 30% bei der Listenaufstellung zu den Kommunalwahlen und eine Frauenbeauftragte gibt.
Nicht alle Gesetze und Initiativen werden zu Ende gebracht oder es fehlen adäquate Ansätze für deren Umsetzung. Die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde zwar unterschrieben, aber durch den starken Einfluss der reaktionären Kräfte bislang noch nicht ratifiziert. Frauen in Wirtschaft und Politik sind in der Ukraine immer noch stark unterrepräsentiert. Doch die Frauenquote einzuführen ist auch in europäischen Ländern eine große Herausforderung. Und der Gehaltsunterschied zwischen Frauen und Männern in der Ukraine liegt – wie in Europa – bei ca. 27%.
Frauen im Militär
Für ukrainische Frauen war der Dienst in kämpfenden Einheiten früher verboten. Inzwischen ist ein internationaler Trend hin zu einer Militarisierung von Frauen zu beobachten, der in der Ukraine aufgrund des Konflikts noch verstärkt wurde. Wenn Frauen in der Armee dienen und sich an Kämpfen im Osten der Ukraine beteiligen können, so wird es als Zeichen der errungenen Gleichberechtigung gedeutet. Auch in Deutschland wird die UN-Resolution 1325 zu „Frauen, Frieden und Sicherheit“ so verstanden bzw. interpretiert, dass es für die Gleichberechtigung der Geschlechter mehr Frauen in der Nato, in der Bundeswehr geben muss.
Doch es geht um weit mehr als um die Repräsentanz von Frauen im Polizei- und Militärdienst. In der von Männern dominierten Friedens- und Sicherheitspolitik könnte ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis auch Auswirkungen auf eine Deeskalation von Konflikten und eine nachhaltige Friedenssicherung haben. Frauen sollten nicht nur ein Recht haben, zu kämpfen, sondern auch an Friedens- und Konfliktlösungen mitwirken zu können, forderte Dana Jirous von OWEN, Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung.
Gegenwind von rechts
Debatten zeigen aber auch, dass in der Ukraine weiterhin starke reaktionäre Kräfte bestehen, die sehr konservative und patriarchale Geschlechterverhältnisse propagieren und teilweise mit rechtsradikalen Kräften verbunden sind, die eine erhebliche Gewaltbereitschaft gegen sexuelle Minderheiten zeigen. Die Militarisierung der Gesellschaft aufgrund des andauernden Konflikts befördert diese Tendenzen. In der ukrainischen Provinz sind homophobe Vorfälle besonders häufig. Problematisch ist die Tatsache, dass es bei Gewaltübergriffen oft keine adäquate Strafverfolgung und Verurteilung gibt.
Die LGBT Situation in der Ukraine verändert sich. Inzwischen finden nicht nur in Kiew Gay Prides statt, auch in anderen ukrainischen Städten. Als Reaktion auf die erstarkende LGBT Bewegung und die Enttabuisierung von Genderthemen gibt es eine Gegenbewegung seitens der Kirchen (orthodoxe sowie griechisch-katholische) und diverser Rada-Abgeordneter, die sich für eine traditionelle Familienpolitik stark machen. Von protestantischen „pro-life“ und „pro-family“ Bewegungen aus den USA finanziell unterstützt organisieren sich diese rechtskonservativen Bewegungen, um Druck auf die LGBT Bewegung und auf Reforminitiativen im Genderbereich auszuüben.
Genderthemen und eine am Westen orientierte Geschlechterpolitik würden sich besonders gut als Zielscheibe für die Rechten eignen, so Anna Dovgopol, Programmkoordinatorin der Heinrich-Böll-Stiftung Kiew, da sie in ihrer Wahrnehmung gegen das traditionelle, in der nationalen Kultur verankerte Familienbild verstießen.
Education first
Die Bildungsreform sollte als ein zentrales Projekt der Geschlechterpolitik angesehen werden, da Bildung und Aufklärung Voraussetzung für nachhaltige Bewusstseinsveränderungen und Prävention von systematischer Diskriminierung darstellen, unterstrich Olena Malachowa von KRONA, einem Gender Analysezentrum aus Charkiw. Das neue Bildungsgesetz verankert das Prinzip der gleichen Chancen und Rechte für Mädchen und Jungen. Strategien und Aktionspläne wurden entwickelt, um Diskriminierungen abzubauen. Eine Kommission begutachtet Schulbücher und verlangt von den Verlagen Änderungen, wenn durch Sachtexte oder Aufgabenstellungen einseitig bestimmte Geschlechterrollen gepflegt werden. Seit 2017 bietet die Mohyla Universität in Kiew auch einen Studiengang für Gender Studies an.
Entscheidend für die Bildungsreform ist jedoch die Schulung von Fachpersonal. Wenn die Gender-Stereotypen in den Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Universität nicht durchbrochen würden, erläuterte Olena Malachowa, könnten sich auch die Rollenbilder nicht ändern. Es gäbe noch eine gläserne Decke für Frauen, die oft besser gebildet sind, aber dennoch selten Entscheidungsträgerinnen werden.
Reformen brauchen Zeit
Die Ukraine sei ein dreijähriges Kind, das nicht auf einmal erwachsen werden könne, skizzierte Olena Malachowa die aktuelle Situation in der Ukraine. Europa hätte mehr Zeit gehabt, sich zu reformieren. In der Ukraine bleibt nicht viel Zeit für Diskussionen, da ist schnelles Handeln verlangt. Eine Mehrheit in der Ukraine will die europäischen Standards, Werte und Normen, aber der Prozess dahin verläuft nicht ohne Einschränkungen. Eine Rente, die das Überleben der Frauen sichert und vor prekärer Armut schützt, kann es nicht ohne wirtschaftliche Reformen geben.
Im Lebensalltag der Frauen ansetzen, ihre Sprache sprechen, ohne einen abgehobenen Gender-Diskurs zu führen, das sei der Ansatz für eine erfolgreiche Implementierung der Bildungsreformen, erklärt Olena Malachowa. Es brauche viel Aufklärung in der Gesellschaft, etwa über die häufig verwendete sexistische Sprache, um die Toleranz in der Gesellschaft gegenüber allen Gruppen zu fördern.
Bewusstsein für Genderthemen
Wie unterschiedlich die Akzeptanz von geschlechter- und frauenpolitischen Themen sein kann, erläuterte Anna Dovgopol am Beispiel Abtreibung. Die sei in der Ukraine nicht verboten und daher nicht so ein Streitthema wie beispielsweise in Polen. Geschlechterdiskriminierungen und Unterdrückung blieben in der Öffentlichkeit noch zu oft unsichtbar. Ukrainische Frauen sähen ihren Status Quo als etwas Naturgegebenes an. Ein tiefgreifendes Verständnis für die Diskriminierung existiert vielfach nicht. Aus dem Grund sei es so wichtig, ein Bewusstsein für Genderthemen zu entwickeln und gezielt Schritt für Schritt in der Bildung anzusetzen, zu erklären, wie das System funktioniert, welche Formen von Diskriminierung existieren und in welchen Bereichen sie stattfindet.
Festzuhalten ist, dass in den letzten drei bis vier Jahren die Reformen im Bildungsbereich und im Hinblick auf die zunehmende Repräsentanz von Frauen in Politik, in Verwaltungen und bisherigen Männerdomänen positive Beispiele für eine gelungene Umsetzung im Bereich Geschlechterpolitik sind. Ohne die Aufbruchsstimmung nach den Maidan-Protesten und dem Engagement vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen hätte sich in so kurzer Zeit nicht so viel bewegen können.
Auf der Ebene der Repräsentanz und der Gesetze wurde schon viel erreicht. Jetzt bleibt zu hoffen, dass die Reforminitiativen eine breite Basis und Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung erlangen.