Lange wurde in den Medien die Aufhebung des Autofahrverbots für Frauen in Saudi Arabien als feministischer Fortschritt gefeiert. Doch ergeben die andauernden Verhaftungen von Aktivist*innen ein anderes Bild.
Nun sitzen auch Nassima al-Sadah und Samar Badawi hinter Gittern. Ende Juli inhaftierten Saudische Polizisten die beiden Menschenrechtsaktivist*innen und setzten damit Verhaftungswelle fort, die selbst für saudische Verhältnisse beispiellos war. Ihre Opfer: auffällig häufig weibliche Oppositionelle. Der Verantwortliche: Ausgerechnet ein Mann, den viele westlichen Medien als feministischen Reformer feierten: Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman al-Saud.
Als fünf Wochen vor der Verhaftung von al-Sadah und Badawi am 24. Juni 2018 Saudi-Arabien das Autofahrverbot für Frauen kippte, kamen viele Medien aus dem Jubeln gar nicht mehr heraus: Von der Tagesschau bis zu Autor Motor und Sport, von der New York Times bis Aljazeera bejubelten Medien weltweit die vermeintliche feministische Reform. Westliche Korrespondenten ließen sich von weiblichen Chauffeurinnen durch saudische Vororte fahren. Aus tausenden Twitter-Kanälen lachten Gesichter zwischen Abaya, Hidschab und Lenkrad hervor. In Kommentarspalten wurde der weibliche Griff zum Lenkrad zur Metapher dafür, dass Frauen auch in anderen Lebensbereichen bald das Steuern übernehmen. Ein feministischer Erfolg über das übelste Patriarchat der Welt - verantwortet von einem Mann: bin Salman. Bisher: Kronprinz und Verteidigungsminister von Saudi-Arabien. In den Augen vieler westlicher Kommentator*innen von nun an: Reformer, Protagonist des Arabischen Frühlings Saudi-Arabiens, ja gar ein feministischer Revolutionär.
Doch schon damals hatte die Jubelfeier einen kleinen Schönheitsfehler: Ausgerechnet jene, die sich seit Jahrzehnten für ein Ende des Autofahrverbots für Frauen eingesetzt hatten, konnten nicht mitfeiern. 17 politische Aktivist*innen und Aktivisten, die meisten von ihnen Frauenrechtler*innen, waren wiederrum einen Monat vor der großen Party verhaftet worden - durch den Sicherheitsapparat bin Salmans. Darunter die prominente Frauenrechtler*innen Eman al-Nafjan, eine der führenden Aktivist*innen für das Recht auf Autofahren und Herausgeberin des Saudi Women Weblog sowie die Menschenrechtsaktivist*innen Loujain al-Hathloul.
Die männliche Vormundschaft bleibt
Die Verhaftung saudischer Frauenrechtler*innen ist nur ein Beispiel, das zeigt, warum die Reformen bin Salman weniger mit progressiven feministischen Ideen zu haben als mit der guten alten Machtpolitik mit dem Ziel das bestehende Herrschaftssystem zu sichern - inklusive der Rechtlosigkeit für Frauen.
Das zeigt sich auch am September erlassenen Dekret, nach dem es Frauen seit Juni nun gestattet ist, einen Führerschein zu beantragen und ein Fahrzeug zu lenken. Frauen wird es dort erlaubt, ohne Beisein ihren männlichen Vormunds Auto zu fahren. Am System männlicher Vormundschaft, dessen Abschaffung saudische Frauenrechtler*innen beständig fordern, ändert das Dekret nichts. Nach wie vor ist in Saudi-Arabien jeder Frau gesetzlich ein Mann beigestellt, der sie in den meisten Belangen rechtlich vertritt. Bei diesem Vormund (Wakheel) handelt es sich in der Regel um den Vater, den Ehemann oder den ältesten Bruder. Auch für den Fall, dass es keinen männlichen Verwandten gibt, haben die saudischen Herrscher vorgesorgt: In diesem Fall übernimmt der Gouverneur der jeweiligen Provinz die Vormundschaft.
Frauen brauchen die Zustimmung ihres Vormunds bei fast jedem Kontakt mit staatlichen Stellen: wenn sie zur Schule gehen, studieren oder reisen wollen, wenn sie ein Gewerbe eröffnen. Nach wie vor unterschreiben Frauen in Saudi-Arabien nicht ihren eigenen Ehevertrag. Sie können ihre Scheidung nicht selbst initiieren, noch haben sie das Recht ihre Kinder nach der Scheidung zu behalten. Sie können keinen Pass allein beantragen und viele medizinische Behandlungen nicht ohne männliche Zustimmung in Anspruch nehmen. Kurz: Sie dürfen nicht über ihr eigenes Leben bestimmen. Dass es einzelne saudische Frauen gibt, die dennoch ein scheinbar selbstbestimmtes Leben führen, liegt daran, dass ihr männlicher Vormund ihnen dies gestattet; nicht daran, dass sie wirklich unveräußerliche Rechte besäßen.
Weil der Westen die saudische PR-Kampagne liebt
Die Vorstellung einer wahren Gleichberechtigung der Geschlechter ist für Saudis Mächtige so fern wie eh und je. Zu keinem Zeitpunkt haben König Salman oder sein Kronprinz Mohammed bin Salman Frauen unterstützt, die nach gleichen Rechten riefen oder sich öffentlich selbst für Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausgesprochen. Gelegenheit dazu hätten sie reichlich gehabt. Auch wenn Saudi-Arabien weit davon entfernt ist eine politisch aktive Zivilgesellschaft zu besitzen, gibt es immer wieder Aktionen und Proteste, die sich für einen echten Wandel einsetzen. Im September 2016 initiierten saudische Frauenrechtlerinnen eine Petition mit 14.000 Unterschriften für die Abschaffung des Vormundschaftssystems. Die saudische Regierung reagierte schon damals indem sie viele der Aktivist*innen ins Gefängnis sperrte.
Solche Verhaftungen gibt es laut Menschenrechtsorganisationen unter bin Salman mehr denn je. Dass es Nachrichten darüber anders als Berichte über Autofahrende Frauen, wiedereröffnete Kinos und den Ausbau erneuerbarer Energien nicht internationale Schlagzeilen machen, deutet darauf hin, worum es bin Salman bei seinen "Reformen" wirklich geht: Propaganda. Nicht nur gegenüber innenpolitischen Kontrahenten ist das saudische Regime so repressiv wie nie zuvor. Die nun schon seit drei Jahren andauernde Bombardierung und Aushungerung der jemenitischen Zivilbevölkerung, die Unterstützung von Islamisten in Syrien mit Waffen, Geldern und Propaganda, die Blockade Katars - all das ist die Kehrseite der angeblichen Reformpolitik bin Salmans. Oder besser: Bilder autofahrender saudischer Frauen sind Teil seiner PR-Kampagne, mit der er sich internationale Unterstützung für eine Politik sichert, die reaktionärer ist als je zuvor.