Es war ein Signal mit Ausrufezeichen, das Sarajevo am Sonntag, 8. September erlebte. Die bosnische Hauptstadt war die letzte in der Balkan-Region, die gegen den Widerstand ultra-orthodoxer und extremistischer Kräfte endlich öffentlich gegen sexuelle Unterdrückung aufbegehrte, aber nicht nur dagegen.
Erste “Pride Parade” in Sarajevo – ein Signal mit Ausrufezeichen
Als die Menge endlich losmarschierte, waren es wohl über 2000 Junge und Alte, die in Sarajevo zum ersten Mal für allgemeine Menschenrechte und ein Ende von Gewalt und Diskriminierung gegenüber Schwulen, Lesben, Transgender- und Queer-Menschen auf die Straße gingen. Unter hunderten Regenbogenfahnen, begleitet von Trommler*innen und Trillerpfeifen, marschierte ein fröhlicher Zug, in dem vor allem junge Frauen* das Bild prägten, von der Innenstadt zum Parlament. „Ima izać'!“ war das Motto - ein Wortspiel das sowohl „Kommt heraus“ als auch „Coming Out“ bedeuten kann.
Es war ein Signal mit Ausrufezeichen, das Sarajevo am Sonntag, 8. September erlebte. Die bosnische Hauptstadt war die letzte in der Balkan-Region, die gegen den Widerstand ultra-orthodoxer und extremistischer Kräfte endlich öffentlich gegen sexuelle Unterdrückung aufbegehrte, aber nicht nur dagegen. Als einen „Kampf für alle, nicht nur für LGBT“, wollte Branko Culibrk, einer der Organisator*innen, die Parade ausdrücklich verstanden wissen.
Wie wichtig der in dem von ethnischen, nationalistischen und religiösen Konflikten zerrissenen Land ist, in dem die Wunden des Bürger*innenkrieges auch 25 Jahre nach den Kriegsgräueln noch tief sind, wurde durch die Teilnehmer*innen unterstrichen. Ein Dutzend westlicher Botschafter*innen hatte sich, ungewöhnlich genug, der „Pride Parade“ angeschlossen. An der Spitze US-Botschafter Eric Nelson, der sich offen zu seiner Homosexualität bekennt und mit seinem Partner in der bosnischen Hauptstadt lebt. Auch die frisch eingetroffene deutsche Botschafterin Margret Uebber und etliche andere EU-Diplomat*innen marschierten mit. Sie erklärten die „Pride Parade“ damit praktisch zum Testlauf, wie weit die bosnische Gesellschaft bereit ist, sich zu allgemeinen Grundwerten der EU bekennen – unabdingbare Voraussetzung für einen erfolgreichen Annäherungs- und schließlich auch Integrationsprozess.
Demokratische Rechtsstaatlichkeit?
Denn das universelle Recht auf Respekt und ein Leben frei von Diskriminierung oder Gewalt, unabhängig von sexueller Neigung oder Prägung, ist nicht nur fester Bestandteil des Wertekanons innerhalb der Europäischen Union. Es gehört vielmehr zu den Grundgesten einer zivilisierten Gesellschaft. Der demokratische Rechtsstaat lebt nicht vom Recht des Stärkeren, sondern vom Schutz für Minderheiten. Er garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz und eine liberale Abwehrhaltung gegenüber einem übermächtigen Staat und ist nicht verhandelbar. Darauf machten die Teilnehmer*innen der Parade auf vielfältige Weise nachdrücklich aufmerksam.
Das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo hatte Freund*innen und Partner*innen auch aus Albanien, Serbien, Nord-Mazedonien und Kroatien zur Parade eingeladen. Aus Deutschland waren zur Unterstützung die Vorsitzende der Stiftung, Ellen Ueberschär, die Grünen-Abgeordneten Manuel Sarrazin (Bundestag) und Terry Reintke (Europa-Parlament) sowie die ehemalige Zweite Bürgermeisterin von Hamburg, Krista Sager, angereist, die 1999 mit der „Hamburger Ehe“ den Durchbruch zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Deutschland auf den Weg gebracht hatte.
Festival der Menschenrechte
Was in Deutschland inzwischen so selbstverständlich und fast normal ist, und zum Christopher Street Day von Hunderttausenden in Berlin, Hamburg oder Köln als eine Mischung aus Karneval und Festival der Menschenrechte gefeiert wird, ist in Bosnien-Herzegowina immer noch ein hoch riskanter Versuch. Gesellschaftliche Ausgrenzung von Minderheiten ist nach Feststellung von Amnesty International nach wie vor weit verbreitet. Anti-Diskriminierung steht zwar auf dem Papier, zum Beispiel in einem im Kern fortschrittlichen Gesetz von 2016. Im Alltag erleben aber vor allem sexuelle Minderheiten, Menschen mit Behinderungen oder Roma das Gegenteil. Journalist*innen werden bedroht und angegriffen, die Pressefreiheit ist massiv behindert. Korruption blüht, Religion und ethnischer Nationalismus blockieren die demokratische Entwicklung.
Marion Kraske, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo, spricht von einem „allgemeinen Muster der herrschenden politischen Denkweise“ in Bosnien, „die zur Unterdrückung eingesetzt wird“ – notfalls unter Einsatz staatlicher Institutionen. So wurde beispielsweise nicht gegen Hooligans ermittelt, die 2014 maskiert ein Queer-Filmfestival überfielen. Im Mai 2017 konnte eine Versammlung zum Internationalen Tag gegen Homophobie nicht stattfinden, weil die Behörden die Genehmigung nicht rechtzeitig erteilten.
Höchste Sicherheitsstufe
Umso wichtige war die Pride Parade in diesem Jahr, auch wenn öffentliche Stellen die Organisatoren mehrfach aufgefordert hatten, die Parade aus Sicherheitsgründen besser abzusagen. Am Ende sicherten 1.200 Polizist*innen den Protestzug. Die Innenstadt war komplett abgeriegelt, Geschäfte mussten geschlossen und Fenster der Häuser durften nicht geöffnet werden. Die Strecke wurde nach Sprengstoff abgesucht, Anti-Sniper-Einheiten waren auf Dächern postiert, über zwei Dutzend bekannte Extremist*innen wurden nach Medienmeldungen vorbeugend in Gewahrsam genommen.
Jeder und jede Einzelne wurde am Zugang zum Streckenverlauf einer strengen Leibesvisitation unterzogen. Der Zug wurde von einer privaten Sicherheitsorganisation sowie schwer bewaffneten, fast schon paramilitärisch anmutenden Polizeieinheiten begleitet. Trotzdem erhielt der Marsch, zu dem nur 500 Teilnehmer*innen erwartet worden waren, massenhaften Zulauf. Und er blieb ungeachtet aller Warnungen fröhlich und friedlich, eine Gegendemonstration brachte gerade mal 100 Gegner*innen auf die Straße. Familien mit Kindern schlossen sich dem bunten Zug an. Der britische Botschafter Matthew Field sah in der Parade die „sehr positive Botschaft, das Bosnien-Herzegowina offen und tolerant und ein Land für alle“ sein will.
Vorurteile abbauen
Das Ergebnis gibt uns „Kraft und Vertrauen, Vorurteile abbauen zu können, damit es besser für alle wird“ , sagte auch Lejla Huremovic, eine der Organisator*innen. „Wir wollen eine Gesellschaft ohne Gewalt, in der niemand sich oder seine Liebe hinter den eigenen vier Wänden verstecken muss. Die Parade gibt uns die Hoffnung, dass eine Veränderung möglich ist.“ Den besten Beweis, dass Teile der Gesellschaft längst viel weiter sind, als ihre staatlichen Institutionen, lieferten zahllose Zuschauer*innen, darunter viele ältere Frauen*. Die standen an den Fenstern entlang der Parade und warfen den Demonstranten Kusshände und Herzchen zu. Ein anrührendes Signal.
Dass es gerade auch darauf ankommt, hatte zur Eröffnung einer Fotoausstellung „Where Love is illegal“ wenige Tage zuvor die Grünen-Politikerin Krista Sager betont und den Veranstalter*innen vor dem Hintergrund der Hamburger Erfahrungen Mut gemacht. Für die soziale Akzeptanz im Kampf um gleiche Rechte für alle seien auch kleine Schritte hilfreich, sagte sie: „Wichtig ist, sie müssen erfolgreich sein“.
Die „Pride Parade“ in Sarajevo war ein erster Schritt. Und ein Erfolg.
Das Gendersternchen* wurde durch das GWI ergänzt und verweist auf die Konstruiertheit der gegenderten Kategorie (wie z. B. Frau*) und ermöglicht es, Identitäten und Selbstpositionierungen jenseits der historisch gängigen und auch aktuell häufig zugeschriebenen Bezeichnungen mitzudenken.