Die türkische Juristin und Frauenrechtlerin Cânân Arın erhält den Anne-Klein-Frauenpreis 2021. Cânân Arın lebt in Istanbul. Die Anwältin setzt sich seit über 40 Jahren für die Rechte und die Selbstbestimmung von Frauen ein. Sie ist Mitbegründerin des ersten unabhängigen Frauenhauses in der Türkei. In unzähligen rechtlichen Verfahren, in denen es um Gewalt gegen Frauen geht, erstreitet sie Frauenrechte.
Sie hat in der Türkei viel in ihrem Kampf für Frauenrechte erreicht, sieht aber ihre Erfolge akut bedroht: Gemeinsam mit vielen anderen Frauenorganisationen des Landes kämpft sie für den Verbleib der Türkei in der Istanbul-Konvention. Denn die Regierung unter Präsident Erdoǧan versucht derzeit, wichtige Erfolge der Frauenbewegung zu annullieren, insbesondere rechtliche Absicherungen, von denen viele durch die entschlossene Arbeit Cânân Arıns und so vieler mutiger Frauen in der Türkei zustande gekommen sind.
Begründung der Jury
Arın hat sich bereits an der „zweiten Welle“ der türkischen Frauenbewegung beteiligt, die während des Ausnahmezustandes nach dem Militärputsch 1980 begonnen hatte. Sie setzt sich seitdem gegen jede Form von Gewalt gegen Frauen ein. Nicht nur gehörte sie 1990 zu den Gründerinnen des Vereins Mor Çatı (Lila Dach) und damit des ersten, 1995 gegründeten, unabhängigen Frauenhauses in der Türkei, sondern sie war und ist auch an einer Reihe weiterer zivilgesellschaftlicher Initiativen beteiligt: 1997 wirkte sie bei der Gründung des Vereins KADER mit, der sich dafür einsetzt, die Zahl von Frauen in der Politik (Parteien, Parlamente) zu erhöhen.
Cânân Arın hat als Juristin bereits früh aktiv an zwei wichtigen Gesetzesänderungen des (bis 2005 gültigen) türkischen Strafgesetzbuches mitgewirkt: So wurde eine Regelung ersatzlos gestrichen, wonach Vergewaltiger von Sex-Arbeiter*innen eine Strafminderung erhielten. Bis 2005 war auch Vergewaltigung in der Ehe kein Verbrechen im türkischen Gesetzbuch. Arın konnte hier eine Reform durchsetzen. Seitdem wird Gewalt, wie Vergewaltigung in der Ehe, strafrechtlich genauso verfolgt wie eine außereheliche Tat.
Cânân Arın kämpft als Anwältin entschlossen gegen die Unterdrückung der Frau im türkischen Familienrecht, welches in den 1990er Jahren noch daran festhielt, dass der Ehemann als Familienoberhaupt sowohl über Wohnort als auch Berufstätigkeit seiner Ehefrau entscheiden durfte. Bei „Ehrenmorden“ wurde Männern Straferlass garantiert. Arın ging dagegen entschieden vor und verteidigte zahlreiche Frauen vor Gericht. Sie engagiert sich heute gegen die Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen sowie gegen Änderungen der Strafgesetzgebung zur Verharmlosung von Vergewaltigungen von Frauen und insbesondere minderjähriger Mädchen, deren Zahl weiterhin erschreckend hoch ist. Sie hat mit ihrem Engagement die Errungenschaften der Istanbul-Konvention bereits lange vor der Ratifizierung vorweggenommen. Deren Umsetzung seit 2012 ist ein Erfolg nicht nur von Cânân Arın, sondern von allen ihren Mitstreiterinnen; ja, allen Frauen.
Das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ ist auch als Istanbul-Konvention bekannt. Es ist der erste europäische Vertrag, der die Verhinderung und Bestrafung von Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt zum Inhalt hat. Die Konvention wurde von 45 Mitgliedsstaaten des Europarates unterzeichnet und von 34 ratifiziert. Die Türkei war das erste Land, das 2012 die Konvention ratifiziert hat.
Die Konvention ist völkerrechtlich bindend und muss nach der Ratifizierung in nationales Recht umgesetzt werden. Dies hat die Türkei, auch dank der unermüdlichen Arbeit von Cânân Arıns - Seite an Seite mit der türkischen Frauenbewegung - auch getan. Doch unabhängig davon nimmt häusliche Gewalt auch in der Türkei rasant zu. Allein die Zahl der Frauenmorde hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Dies bedauern auch die Hardliner in der türkischen Regierung – machen dafür aber die Frauen selbst verantwortlich. Die Konvention zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt „untergrabe das traditionelle Familienbild“ und leiste „Genderwahn“ Vorschub, so die Argumentation – eine Auffassung, die auch Staaten wie Bulgarien und Ungarn bis heute als Vorwand gegen eine Ratifizierung dient.
Mit Cânân Arın würdigt die Jury des Anne-Klein-Frauenpreises den persönlichen Mut und die Hartnäckigkeit der türkischen Kämpferin für das Recht aller Frauen auf ein gewaltfreies, selbstbestimmtes Leben. Obwohl selbst körperlich wie juristisch bedroht, engagiert sie sich unerschrocken seit über 40 Jahren für die türkischen Frauen. Sie hat sich der Verhinderung, der Aufdeckung und der Anklage von Gewalttaten gegen Frauen verpflichtet und ist nicht bereit, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen. Ein möglicher Ausstieg ihres Landes aus den Verpflichtungen der Istanbul-Konvention ist für sie nicht akzeptabel. Cânân Arın ist ein Vorbild für alle Frauen und Mädchen weltweit.
Der Jury des Anne-Klein-Frauenpreises gehören an:
- Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung, Juryvorsitzende
- Renate Künast, MdB, Bündnis90/Die Grünen
- Prof. Dr. Michaele Schreyer, Vize-Präsidentin des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland
- Jutta Wagner, Rechtsanwältin, ehemalige Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes
- Thomas Herrendorf, Inneneinrichter
Berlin, den 9. Dezember 2020
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Ulrike Cichon
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