„Mein Rat an mein junges Ich ist ein Resümee meines Lebens“

Porträt

Was würde die heute 78-Jährige der jungen Universitätsabsolventin Cânân Arın raten, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte? Ihre Antwort ist der Beweis dafür, dass sie das „richtige Leben“ geführt hat, indem sie den Kampf für Frauenrechte nicht aufgegeben hat.

Cânân Arın ist seit über vierzig Jahren der Alptraum von allen, die Frauen für hilfsbedürftig und minderwertig erachten, Frauenrechte attackieren, für die Kontinuität des patriarchalen Systems eintreten, kleine Mädchen verheiraten – kurzum: sie ist der Alptraum aller Frauenfeinde. Die Angst ist berechtigt. Arın ist eine Frau, die ihre Meinung unverblümt zum Ausdruck bringt und keine Angst hat, für ihre Überzeugung einen Preis zu zahlen. Eine Frauenrechtlerin, die ihre Standpunkte zum Ausdruck bringt, ohne sich von Beleidigungen, Bedrohungen und Klagen abschrecken zu lassen.

Leidenschaft für Literatur

Geboren in der türkischen Hauptstadt Ankara, verbrachte Cânân Arın eine glückliche Kindheit in einer liebevollen Familie. Schon in der Grundschule begann sie, Theater zu spielen, was sie bis ans Ende ihres Universitätsstudiums fortsetzen sollte. Neben dem Theater hatte sie eine weitere Leidenschaft: das Lesen. Die Gage für ihre Rollen in Kinderstücken investierte sie in Bücher. Die Wochenenden verbrachte sie in Buchhandlungen, die sie mit Märchen der Gebrüder Grimm und Papier zum Basteln von Buchumschlägen verließ. Die Bücher, die sie mit buntem Papier umwickelte, las sie in einem Atemzug und träumte von neuen Büchern. So entwickelte sie eine starke Beziehung zur Literatur. Mit dem Lesen begann sie sich auch für Philosophie, Geschichte und Soziologie zu interessieren. Zum Zeitpunkt ihres Abiturs hatte sie schon ein Großteil der Literaturklassiker gelesen.

Dem Abitur an Istanbul Kız Lisesi (Anm. ein Mädchengymnasium) folgten die Hochschuljahre. In einer Zeit, in der das Jurastudium für sehr mühsam gehalten wurde, begann sie, an der juristischen Fakultät der Universität Istanbul zu studieren. Sie hatte das Jurastudium gewählt, weil es sich mit ihren Interessen deckte: „Eine Juristin muss schön sprechen, Wörter richtig aussprechen können, sie muss sich in Philosophie, Geschichte und Soziologie auskennen und sich in Menschen einfühlen können“, dachte sie. Und weil sie glaubte, diese Eigenschaften in sich zu vereinen, entschloss sie sich für den Beruf der Juristin.

Sie war in der vordersten Reihe, als im Rahmen der 1968er Bewegung auch in Istanbul junge Menschen für die Freiheit auf die Straße gingen. Sie demonstrierte gemeinsam mit Deniz Gezmiş, einem der Anführer der revolutionären Bewegung, der am 6. Mai 1972 hingerichtet wurde.

London

Nach dem Jurastudium ging Arın nach London, wo sie zwischen 1970 und 1975 an der London School of Economics and Political Science Verfassungsrecht studierte. Sie sagt heute: „Es war ein Wahnsinn, in London Verfassungsrecht zu studieren, aber damals war ich sehr selbstgefällig.“ Das Wissen, das sie sich in London angeeignet hatte, ermöglichte ihr eine neue juristische Perspektive. Während das Jurastudium in der Türkei den Staat in den Vordergrund rückte, hatte in England das Individuum Vorrang. Erst mit der Zeit gewöhnte sie sich an den Gedanken, dass die Grundrechte das Individuum vor dem Staat schützen (müssen). Die Londoner Jahre prägten ihre Sicht auf das Leben und bereicherten sie.

Als sie im Jahr 1976 in die Türkei zurückkehrte, erhielt sie das Angebot für einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität Istanbul. Sie entschied sich jedoch gegen eine akademische Karriere und nahm den Beruf der Rechtsanwältin auf.

Feministischer Ursprung

In ihren ersten Berufsjahren machte sie sich noch keine Gedanken über die Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie gehörte einer Generation an, die in der Illusion aufgewachsen war, die Geschlechter seien bereits gleichberechtigt. Sie hatte nicht erlebt, dass ihre beiden Brüder aufgrund ihres Geschlechtes bevorzugt worden wären. In Verfassungsrechtsbüchern stand ebenso geschrieben, dass Frauen und Männer vor dem Gesetz gleich seien. Das heißt, sie hatte noch keine Situation erlebt, in der sie Ungleichheit empfunden hätte. Heute glaubt sie, dass ihr damals die Vorherrschaft des Patriarchats noch nicht bewusst war bzw. dass sie noch nicht über ein feministisches Bewusstsein verfügte, das ihr ermöglicht hätte, die Ungleichstellung von Frau und Mann zu problematisieren: „Dank des Feminismus realisierte ich die Ungleichstellung, ich erkannte, wie das türkische Familienrecht Männer bevorzugt und dass das Strafrecht den weiblichen Körper als ,Ware‘ rezipiert.“

Eines Tages erhielt sie einen Anruf von Şirin Tekeli, heute eine der bekanntesten feministischen Aktivistinnen in der Türkei. Tekeli fragte sie, ob sie Interesse hätte, sich einer Frauengruppe anzuschließen – diese Gruppe hätte sich formiert, um für die Rechte der Frauen einzutreten. Arın nahm dieses Angebot gerne an. Beide Frauen, heute aus der türkischen Frauenbewegung nicht mehr wegzudenken, begannen daraufhin, Treffen in Privatwohnungen zu organisieren, die das feministische Bewußtsein der Anwesenden vertieften. Dank dieser Treffen erkannte Arın die faktische Ungleichstellung zwischen Frauen und Männern. Ihre eigene persönliche Entwicklung für den gesellschaftlichen Wandel einzusetzen ging dann relativ schnell.

Sie hat das Gespräch, das sie in London mit einer libanesischen Professorin für Verfassungsrecht geführt hatte, nie vergessen. Die Professorin hatte erzählt, dass die Rechtsprechung in Libanon jeden/jede Religionsangehörige/n entsprechend den Vorschriften seiner/ihrer heiligen Schrift behandelte. Diese Information hatte Arın sehr überrascht. Wie würde man im Fall einer Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit vorgehen? Die libanesische Juristin hatte gemeint, die Regeln seien überaus kompliziert, nicht nur im Zusammenhang mit dem Familienrecht, sondern auch für die Frauenrechte. Je mehr Arın realisierte, wie sehr religiöse Vorschriften Frauen benachteiligen, desto mehr wandte sie sich dem laizistischen Prinzip zu. Nach Arın garantiert der Laizismus nicht nur die Frauen-, sondern auch die Menschenrechte und er ermöglicht, die Gesetze objektiv umzusetzen. Für Arın ist die Trennung der Religion und des Staates für ein humanes Leben unverzichtbar. „Alle monotheistischen Religionen stützen sich auf die Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau. In religiös vermittelten Ehen werden Frauen wesentlich mehr unterdrückt“, sagt sie. Aufgrund dieser Auffassung ist sie eine Verfechterin nicht nur der Frauenrechte, sondern auch des Laizismus.

Mit der Verbreitung eines feministischen Bewusstseins im Land entstand die zweite Welle der türkischen Frauenbewegung; eine ihrer Pionierinnen in den 1980er Jahren war Cânân Arın. Als Rechtsanwältin verteidigte sie nunmehr die Rechte von Frauen. Wenn sie Frauen vertrat, die sich scheiden lassen oder häuslicher Gewalt entkommen wollten, verzichtete sie auf ihr Honorar. Eine Frau, die sie bei der Scheidung wegen häuslicher Gewalt vertreten und anschließend bei der Übersiedlung aufs Land unterstützt hat, vergisst sie nie. Diese Frau hat Cânân Arın auch nie vergessen und schickt ihr Jahr für Jahr eine Postkarte mit dem Satz: „Sie haben mein Leben und das meiner Tochter gerettet.“ Arın erzählt, dass sich die Frauen, die sie unterstützt hat, bei ihr immer mit etwas Handwerklichem bedanken, sei es ein Tischtuch oder ein Schal, und ergänzt: „Das Allerschönste ist zu sehen, dass sie auf eigenen Beinen stehen“.

Mor Çatı

Aus den Treffen zur feministischen Bewusstseinserweiterung in Wohnungen war mit der Zeit eine organisierte Frauenbewegung entstanden. Die im Jahr 1990 gegründete Frauenhausstiftung Mor Çatı war ein Produkt dieser Bewegung.

Cânân Arın ist eine der Gründerinnen der Frauenhausstiftung Mor Çatı, die heuer 30 Jahre alt geworden ist. Gülsün Kanat, ehrenamtliche Mitarbeiterin von Mor Çatı, erinnert sich noch sehr gut an den Tag im Jahr 2002, an dem sie Cânân Arın kennengelernt hat: „Ich hatte das Glück, mit einer Frau, die ich immer schon bewundert hatte, zusammenzuarbeiten. Es ist sehr aufregend und erfüllt mich mit Stolz, gemeinsam mit ihr ein Teil der Frauenbewegung zu sein.“ Wenn Kanat von Arın erzählt, verwendet sie auffallend oft das Wort „sehr“: „Sehr herzlich, sehr unverblümt, sehr weichherzig…“ Nach Kanat ist Cânân Arın eine unermüdliche Kämpferin für Frauenrechte, die ihre Sätze mit „wir“, statt mit „ich“ bildet, die feministische Idee in allen Lebenslagen lebt, für die Mitarbeiterinnen der Frauenhausstiftung immer präsent ist, aber sie nie unter Druck setzt und in Sachen Solidarität zu keinem Kompromiss bereit ist. „Sie war immer da, wenn wir sie gebraucht haben. Mit ihrem juristischen Wissen hat sie uns immer unterstützt. Sie hat Mor Çatı international vernetzt. Und sie machte Platz für Neuankommende“, erzählt Kanat. Mor Çatı ist eine Nichtregierungsorganisation, die in den 30 Jahren ihres Bestehens das Leben von 40.000 Frauen verändert hat. Was für ein Gefühl ist es für Cânân Arın, Mitbegründerin einer Einrichtung zu sein, die das Leben von tausenden Frauen mitbestimmt hat? „Das macht mich stolz“, sagt sie.

Jahre vergingen. Überall, wo Frauenrechte verteidigt wurden, waren mittlerweile Spuren von Arın zu erkennen. Sie war Teil des Kernteams der „Frauenplattform Türkisches Strafrecht“, die dafür eintrat, das türkische Strafgesetzbuch aus der Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit neu zu gestalten. Sie war auch Teil der Gruppe, die den Schattenbericht des Komitees zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frauen (CEDAW) an die Vereinten Nationen verfasste. Sie war Mitbegründerin nicht nur der Frauenhausstiftung Mor Çatı, sondern auch des Vereins KADER, der die Kandidatinnen unterschiedlicher politischer Parteien auf ihrem politischen Weg unterstützt, wie auch des Zentrums für Frauenförderung der Istanbuler Anwaltskammer. Einmal traf man sie bei der Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen, bald darauf in der Kommission für die Gleichstellung von Frauen und Männern des Europäischen Rats. 1996 erschien das Buch „Sıcak Yuva Masalı: Aile İçi Şiddet ve Cinsel Taciz“ (Das Märchen vom gemütlichen Zuhause: Häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch), das Cânân Arın gemeinsam mit Pınar İlkkaracan ve Leyla Gülçür verfasst hatte. Ihr Kampf für den Schutz von Frauenrechten war weltweit anerkannt, doch die türkischen Autoritäten sahen das anders.

Gerichtsprozess

Gaziantep, 2012: Um 5:30 Uhr klopft es an der Tür eines Hotelzimmers. Es sind Polizisten. Sie sagen, es gäbe einen Haftbefehl und nehmen Cânân Arın in Untersuchungshaft. Zehn männliche Rechtsanwälte hatten Arın wegen einer Präsentation zum Thema Verheiratung von Minderjährigen angezeigt. In ihrem Vortrag im Rahmen eines Ausbildungsprogramms des Gremiums für Frauenrechte der Anwaltskammer Antalya hatte Arın auf die große Zahl der Eheschließungen im Kindesalter hingewiesen und als Beispiel die Ehen des islamischen Propheten Muhammad und des damaligen türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül genannt.

Arın wurde nach ihrem Verhör frei gelassen, doch die Staatsanwaltschaft ließ sie nicht in Ruhe. Sie wurde wegen der öffentlichen Herabwürdigung religiöser Werte und wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes angeklagt, die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Arın wurde nicht bestraft, aber auch nicht freigesprochen, weil der Prozess verschoben wurde. Während der ganzen Prozessdauer haben Frauenorganisationen Cânân Arın keinen einzigen Tag allein gelassen.

Als unter der AKP-Regierung diskutiert wurde, die Institution der Muftis (religiöse Gelehrte) zu autorisieren, Eheschließungen vorzunehmen, wurde sie nicht müde, wiederholt und laut zu betonen, dass diese Regelung der Verheiratung Minderjähriger Tür und Tor öffnen würde. Darüber hinaus würden die Veränderungen im Schulsystem Mädchen zwingen, die Schule zu verlassen. Cânân Arın wurde für ihren Kampf gegen die Verheiratung von Kindern mit dem Bruni-Leoni-Preis ausgezeichnet, der jährlich einer Persönlichkeit für ihre Verdienste in Menschenrechten vergeben wird. Arın widmete diesen Preis allen Frauen:

„Es hat geheißen, dieser Preis wurde mir für meinen Mut verliehen. Ich denke jedoch, dass alle Frauen mutig sind. Allein die Entscheidung, ein Kind auf die Welt zu bringen, ist sehr mutig. Und oft ist es eine ebenso mutige Entscheidung, kein Kind auf die Welt zu bringen.“

Frauensolidarität und Widerstand heute

Die aktuellen Attacken auf die Errungenschaften von Frauen machen Arın sehr zu schaffen. Als jemand, die im Kampf für diese Errungenschaften aktiv beteiligt war, weiß sie genau, welche Arbeit dahintersteckt. „Entweder durch Gesetzesänderungen oder durch Rücktritt von internationalen Abkommen – aktuell werden Frauenrechte de facto verletzt“, sagt sie und schätzt den politischen Kurs als sehr bedrohlich für die Rechte der Frauen ein. Sie ist der Meinung, dass Frauensolidarität und Widerstand gerade deswegen extrem wichtig sind. Laut Arın ist die Genderungleichheit der Hauptgrund für die Probleme der Frauen. Nachdem sie die Ungleichstellung als Nährboden für die männliche Gewalt an Frauen definiert, sagt sie: „Frauen bezahlen diese Ungleichstellung mit ihrem Leben“. Sie sagt, die AKP-Regierung würde die Frau nicht als Mensch anerkennen und daher die existierenden Gesetze nicht umsetzen. Und aus demselben Grund würde sie keine Maßnahmen zur Beendigung männlicher Gewalt an Frauen ergreifen. Auch wenn sie sehr pessimistisch ist, was die AKP-Politik betrifft, verleiht ihr die Solidarität anderer Frauen Optimismus. Und genau dieser Optimismus hilft ihr, trotz systematischer Angriffe auf die Errungenschaften der Frauen, ihre Hoffnung nicht zu verlieren.

Was würde die heute 78-Jährige der jungen Universitätsabsolventin Cânân raten, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte? Ihre Antwort ist der Beweis dafür, dass sie das „richtige Leben“ geführt hat, indem sie den Kampf für Frauenrechte nicht aufgegeben hat:

„Sei unbedingt Teil einer Frauenorganisation, sei solidarisch mit Frauen und vertrete die Frauenrechte bis ans bittere Ende. Mache auf keinen Fall Kompromisse. Ich glaube, mein Rat an mein junges Ich ist ein Resümee meines Lebens!“

 

Übersetzung: Dilman Muradoğlu.