Seit Jahrzehnten prägen negative Zukunftsvisionen aus Science-Fiction-Filmen die tatsächliche Technologieentwicklung und liefern so Vorlagen für Praxen der Diskrimierung, wie Predictive Policing und andere gefährliche Machine-Learning-Verfahren. Autorinnen der Visionary Fiction zeigen, dass das auch anders geht.
Politische Arbeit besteht meist aus vielen Kompromissen und langen Verhandlungen, echte Zukunftsvisionen kommen dabei oft zu kurz. Realpolitische Zukunftsvisionen reichen oft nur bis zur nächsten Legislaturperiode und viele junge Menschen in Deutschland haben spätestens durch die Debatten um die Klimakrise den Glauben in Politik und politische Selbstwirksamkeit verloren.
Öffentlich zugängliche Zukunftsvisionen, die nicht hinter verschlossenen Türen von Ämtern und großen Firmen entwickelt werden, sehen oft aus wie in der Serie „Black Mirror“: Einzelne globale Multis regieren die Welt, Überwachungskapitalismus, Kameras und Screens überall, jede Interaktion wird bewertet, analysiert und klassifiziert. Oft leben in diesen Darstellungen Menschen zusammen mit Maschinen, und genauso oft gibt es dadurch Konflikte, Hierarchien und Unterdrückung.
Auch unsere Vorstellungen von Technologie gestalten diese Filme oder Fiktionen. Wenn wir Daten als „das neue Öl“ bezeichnen, so die Researcherin Maya Ganesh, dann prägt dies, wie wir Daten sehen und mit ihnen arbeiten. „Solche Metaphern bestimmen, wie eine Technologie entwickelt und gebaut wird und wie sie reguliert (oder nicht reguliert) wird."
Viele Tech-Unternehmen lassen sich von Hollywoods Science-Fiction-Vorstellungen in ihrer Produktentwicklung beeinflussen. Dazu gehört nicht nur das iPad und die Smartwatch. Predictive-Policing-Systeme sind nicht mehr weit entfernt vom Filmkonzept in „Minority Report“ (nur die unersetzbaren Precogs wurden wegrationalisiert). Schon heute werden rassifizierte Menschen in den USA, UK und anderswo durch solche Systeme überproportional anlasslos überwacht und vorverurteilt. In Xinjiang werden Gesichtserkennung, Wi-Fi-Wanzen und Spionageprogramme eingesetzt, um Uigur*innen und andere Muslim*innen zu klassifizieren und in Folter- und Zwangsarbeitslagern zu inhaftieren.
Technologien sind von Neokolonialismus geprägt
Oft sind die, die die gewaltvollen Auswirkungen von neuen Technologien besonders spüren, Menschen, die in ihren Ländern marginalisiert werden und/oder im Globalen Süden leben. Pedro Oliveira und Luiza Prado fordern ihre Leser*innen im „Cheat Sheet for a Non- (or Less-) Colonialist Speculative Design“ dazu auf, sich stets zu fragen: „‘Does my dystopia happen already in other ‘invisible’ (sic) places of the World?‘ It is good to know if what would be terrible for you and your audience isn’t already reality for others.“ („'Gibt es meine Dystopie bereits an anderen 'unsichtbaren' (sic) Orten der Welt?' Gut zu wissen, ob das, was für dich und dein Publikum schrecklich wäre, für andere nicht schon Realität ist.")
Oftmals hat Kolonialismus und seine bis heute starken Auswirkungen zu diesen Zuständen beigetragen. Der Abbau und Export (Extraktivismus) von Technologie-Rohstoffen und auch von Daten, wie zum Beispiel Fotos für das Training von Gesichtserkennungssystemen, trägt neokoloniale Züge. Der Wissenschaftler Michael Kwet analysiert, wie digitale Services aus den USA auf der ganzen Welt lokale Märkte zerstören und fordert dazu auf, über Silicon Valley als imperiale Macht zu sprechen. So sollen Verkehrschaos und Staus im Globalen Süden mit teurer Smart-City-Infrastruktur für reiche Viertel gelöst werden, powered by IBM und Sisco.
Visionare Fictions
Kurzum: Bislang sind unsere Zukunftvisionen vor allem bestimmt von Datenkolonialismus, Extraktivismus, Konkurrenzdenken und alles zerstörenden Wachstumssehnsüchten. Es scheint so viel leichter, negative Zukunftsvisionen zu erdenken, als konkrete Vorstellungen von Welten zu erschaffen, die plural und lebenswert für alle sind. Dabei sind diese so wichtig. Wir können nur in einer gerechteren Welt leben, wenn wir es wagen, sie uns zunächst vorzustellen.
adrienne maree brown (2019). Excerpt from „Dream Beyond the Wounds“. Ding Magazine.
Wie so eine lebenswerte, plurale und dekoloniale Zukunft aussehen könnte, zeigt beispielsweise Marge Piercy in ihrem 1976 veröffentlichten Visionary-Fiction-Zeitreise-Roman Woman at the Edge of Time (Danke für dieses Geschenk, Ulla Heinrich!). Die Protagonistin namens Connie Ramos, die aufgrund von Armut, Rassismus und patriarchaler Gewalt in einer psychiatrischen Klinik gefangen gehalten wird, entkommt dank einer zeitreisenden Person, Luciente. Diese nimmt sie mit in ihr Leben des Jahres 2137, um sicherzustellen, dass jene Zukunft auch tatsächlich Realität werden wird. Die Reibungspunkte und das Unverständnis von Connie und Luciente für die Welten der jeweils anderen Person erschüttern das Bild der Normalität, mit der Connie ihren Alltag betrachtet. Bei ihrem ersten Gespräch fragt Connie Luciente:
„You're a college graduate?“ (...) – „What's that?“ They stared at each other in mutual confusion. „Where you go to study. To get a degree,“ Connie snapped. „A degree of heat? No... as a hierarchical society, you have degrees of rank? Like lords and counts?“
Piercy beschreibt eine Welt, in der es keine Hierarchien, sondern Rollen gibt, in der alle, die möchten, „mothern“ (~Mutter sein) können. Gender gibt es nicht mehr. Nachhaltigkeit ist in alle Prozesse eingebunden, und die hochtechnologisierte Gesellschaft zeigt, dass dies keinen Widerspruch darstellt. Es gibt trotzdem Schmerz, Eifersucht und Tod, aber die Menschen in Lucientes Welt haben gute Wege gefunden, damit gemeinsam umzugehen.
Eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der Visionary Fiction ist Octavia Butler. In Parable of the Sower & Parable of the Talents (LINK)) zeigt Butler eine harte und schmerzvolle Zukunft, in der die Apokalypse nicht durch Aliens oder einen plötzlichen Kometeneinschlag hervorgerufen wird, sondern schleichend kommt – mit der vorangeschrittenen Klimakrise und der Privatisierung und Kommodifizierung von allem. Dieser starken Kritik des zerstörenden Kapitalismus stellt Butler eine Gruppe gegenüber, die den gegebenen Widrigkeiten trotzen und sich durch ihre Anpassungsfähigkeit und Empathie eine Community aufbauen. Olamina schafft in den Parables eine neue religiös-spirituelle Bewegung. In deren Zentrum stehen jedoch keine Dogmen oder Götter, sondern die Veränderung, die aktiv geformt und beeinflusst werden kann:
„All that you touch / You Change / All that you Change / Changes you / The only lasting truth is Change / God is Change.“
In dem Sammelband Octavia’s Brood Science Fiction Stories from Social Justice Movements schreiben die Herausgeberinnen adrienne maree brown und Walidah Imarisha: „Whenever we envision a world without war, without prisons, without capitalism, we are producing speculative fiction.“ Besonders berührt hat mich die Kurzgeschichte „Evidence“ von Alexis Pauline Gumbs. „Evidence“ wirft liebevolle, großzügige und semi-lineare Blicke aus der Zukunft in die Vergangenheit. Einfache Fragen an die Ahn*innen vermögen es, den normalisierten Status Quo der Leser*innen zu verrücken und die Gewissheit einer anderen Zukunft zu erschaffen.
„I'm really interested in what it was like back when you lived. It seems people where afraid a lot. Maybe every day? It's hard to imagine, but it seems that way from the writing. I have to remember that noone knew things would get better, and that even people who were working to make it happen had to live with oppression every day. (...) It feels like you loved us already. Thank you for being brave.“
Gumbs Welt der Zukunft fühlt sich anders an:
„Now we are very good at growing. I'm growing a lot right now and everybody is supportive of growing time, which includes daydreams, deep breaths, and quiet walks. Noone is impatient while anyone else is growing.“
Die oben beschriebenen visionären Fiktionen tragen ähnliche Wertvorstellungen in sich. Schwarze Frauen und Frauen of Colour werden in die Zukunft geschrieben bzw. schreiben sich in die Zukunft, und leben Solidarität, Selbstentfaltung innerhalb einer Community, haben mehr Zeit und andere Vorstellungen von Arbeit und Leistung, Achtung und Erhaltung der Natur, mehr Verbundenheit und Wert für Körper und Emotion, chosen families und queerere Lebensentwürfe. Entscheidend ist es vor allem, diese Ideen greifbar, beschreibbar und dadurch lebbar zu machen. Oder, wie es adrienne maree brown und Walidah Imarisha formulieren: um aus unseren Träumen die Realität zu formen.
Bereits 2014 schrieb der Journalist und Researcher Paul Raven in seinem Blog „Futurismic“, dass alle Grundvoraussetzungen für eine lebenswertere Welt bereits vorhanden seien. Wir bräuchten keine neuen Technologien dafür zu erschaffen. Entscheidend sei vielmehr ein Shift in unseren Wertvorstellungen. Und dieser, argumentiert Raven, sei buchstäblich naheliegend – „weil wir dafür nicht eine einzige Erfindung oder Software benötigen, die wir nicht schon haben.“
Ich habe zwei Freund*innen und Kolleg*innen gefragt, welche mögliche alternate reality/lebenswerte Zukunft aus Medien sie beeinflusst hat.
Quellen:
[1]: https://www.netflix.com/de-en/title/70264888
[2]: https://aisforanother.net/pages/project.html
[3]: https://www.electropages.com/blog/2020/01/how-sci-fi-influences-real-wo…
[4]: https://www.technologyreview.com/2018/04/05/67057/when-science-fiction-…
[5]: https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/big-data/predictive-policing/
[6]: https://www.technologyreview.com/2020/07/17/1005396/predictive-policing…
[7]: https://www.vice.com/en/article/jgqgzg/how-china-uses-ai-to-identify-su…
[8]: https://medium.com/a-parede/cheat-sheet-for-a-non-or-less-colonialist-s…
[9]: https://qz.com/africa/1287675/china-is-exporting-facial-recognition-to-…
[10]: https://www.aljazeera.com/opinions/2019/3/13/digital-colonialism-is-thr…
[11]: https://www.frontiersin.org/research-topics/22025/technology-and-sustai…
[12]: https://dingdingding.org/issue-2/dream-beyond-the-wounds/
[13]: https://www.theguardian.com/books/2016/nov/29/woman-on-the-edge-of-time…;
[14]: https://www.goodreads.com/book/show/35007517-earthseed?from_search=true…
[15]: https://www.goodreads.com/book/show/23129839-octavia-s-brood?from_searc…
[16]: http://futurismic.com/2014/10/12/make-technological-utopia-easier-with-…