Deutschland will Erntehelfer*innen, erteilt inzwischen sogar Arbeitsvisa. Doch wenn die Arbeiter*innen nur die Hälfte des vertraglich zugesicherten Lohns erhalten, passiert nichts. Fast.
2003 stürzten die Georgier*innen mit der „Rosenrevolution“ ihre damalige Regierung. Jetzt findet eine kleine georgische Revolution auf deutschen Erdbeerfeldern statt. Solidarität und Empathie könnten den miserablen Bedingungen für Erntehelfer*innen ein Ende bereiten. Aber erst dann, wenn diese selbst aktiv werden.
Keine*r hatte damit gerechnet, dass ausgerechnet Erntehelfer*innen aus der Südkaukasusrepublik Georgien in Deutschland rebellieren würden. Doch genau dieser Fall ist eingetreten. Seit Wochen ist der Aufstand ein Topthema in georgischen Medien. Aber auch in Deutschland stoßen Beschwerden über die schlechten Arbeitsbedingungen zunehmend auf Resonanz. Zumindest bis jetzt herrschte in Georgien in weiten Teilen der Bevölkerung ein durchweg positives Deutschlandbild vor. Doch dieses dürfte mittlerweile nachhaltig beschädigt sein.
Vertragsbruch und zu wenige Toiletten - Standard für Arbeitgeber*innen in Deutschland
Seit 2017 benötigen Georgier*innen sowie Ukrainer*innen kein Schengen-Visum mehr, um in die EU einzureisen. Die EU hatte 2009 ihre Beziehungen zu sechs ehemaligen Sowjetrepubliken mit der Initiative „Östliche Partnerschaft“ gestärkt. So benötigen auch ukrainische Bürger*innen für Aufenthalte von bis zu 90 Tagen innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen im Schengen-Raum kein Visum mehr. Sie dürfen sich zu geschäftlichen, touristischen oder familiären Zwecken auf den Weg in die EU machen. Doch die Befreiung von der Visumpflicht berechtigt in der Regel nicht zur Aufnahme einer Arbeit. Also kommen viele Frauen, wie etwa aus der Ukraine, als Touristinnen und arbeiten dann illegal in deutschen Haushalten als Putzhilfe oder in der Altenpflege.
Bei Georgier*innen liegt der Fall anders. Seit dem 15. Februar 2021 erlaubt Deutschland georgischen Staatsbürger*innen, einer legalen Beschäftigung in der Landwirtschaft nachzugehen. Dabei handelt es sich um ein temporäres Saisonprogramm, das maximal 90 Tage dauert. Damit ist Georgien das erste Land, mit dem Deutschland ein Drittstaaten-Abkommen geschlossen hat.
Doch gegen die Arbeitsbedingungen regt sich Protest. Zu Recht – wenngleich die Ausbeutung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft kein neues Phänomen ist. Vor allem Frauen arbeiten unter unzumutbaren Bedingungen. Sexuell belästigt, beleidigt, vergewaltigt – das ist Alltag für tausende Erntehelferinnen in Europa. Sie pflücken Tomaten und Erdbeeren, die dann in deutschen Supermärkten als „sicher und nachhaltig“ verkauft werden. Doch die verantwortlichen Arbeitgeber*innen kommen bislang ungestraft davon. In einer monatelangen Recherche in Spanien, Marokko und Italien hat BuzzFeed News diese Missstände bereits 2018 aufgedeckt.
Auch in Deutschland herrschen desolate Zustände. Als Reaktion auf einen Bericht der taz über den Umgang mit georgischen Erntehelfer*innen in Friedrichshafen, besuchten lokale Hilfsorganisationen das Erdbeerfeld. Margarete Brugger, Beraterin von der Organisation „mira - Mit Recht bei der Arbeit“ berichtet, dass es an den Feldern in Friedrichshafen keine getrennten Toiletten gebe. Die sanitären Anlagen für die Mitarbeiter*innen reichten bei weitem nicht aus. In einem Hofgebäude aus gemauertem Stein mit verschiedenen Zimmern müssten die Frauen durch die Schlafräume der Männer gehen, um zu den Toiletten zu gelangen. Bei den Holzcontainern für die Frauen gebe es nur eine Dixi-Toilette.
Vor allem Frauen wehren sich
Das wollen georgische Frauen nicht länger hinnehmen – genauso wenig, wie die schlechten und unterbezahlten Knochenjobs. In Videos, die mittlerweile in Georgien kursieren, beschweren sie sich darüber, dass sie doppelt so viel arbeiten müssten, um den Lohn zu bekommen, der ihnen versprochen worden sei. Viele kehren vorfristig nach Georgien zurück und wehren sich von dort gegen „deutschen Menschenhandel und Sklavenarbeit“.
Anders als die Arbeiter*innen aus Polen oder Rumänien, werden die Georgier*innen selbst aktiv. Sie greifen zu allen denkbaren Mitteln, um die Lage anzuprangern und dadurch vielleicht zu verbessern.
Den Anfang machte der Georgier Jemal Chachanize. Er hat eine wahre Lawine losgetreten. Bereits nach wenigen Tagen verließ er fluchtartig seinen Arbeitsplatz in Deutschland. Chachanize wandte sich an deutsche und georgische Hilfsorganisationen, an die Medien sowie an die georgische Regierung. Bei seiner Rückkehr nach Georgien wurde er als Held gefeiert.
Viele seiner Landsleute folgen diesem Beispiel. Dutzende georgische Erntehelfer*innen sind mittlerweile zurückgegangen. Sie erhalten Unterstützung vom Georgischen Gewerkschaftsbund (GTUC). Der GTUC will die georgische Regierung vor Gericht ziehen. Denn es war die georgische Staatsagentur für Arbeitsförderung, die die Verträge abgeschlossen hat.
Darin ist ein Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde festgelegt. Allein das ist schon ein Verstoß gegen deutsches Recht, weil der gesetzliche Mindestlohn zum 1. Juli 2021 auf 9,60 Euro erhöht wurde. Die Betroffen werden jedoch nach Gewicht der Ernte bezahlt: 3 Euro für 5 Kilogramm. Viele schaffen maximal 10 Kilogramm in einer Stunde.
Irakli Petriashvili, Geschäftsführer des GTUC bringt den Unmut auf den Punkt. Sollte Georgien der EU beitreten, reiche es nicht, wenn die EU-Fahnen vor den Amtsgebäuden in Georgien flatterten. Es gehe um europäischen Standards. Doch auch in Deutschland selbst würden diese Standards missachtet und die Rechte der Arbeiter*innen verletzt.
Doch auch in Deutschland selbst sind erste interessante emanzipatorische Entwicklungen zu beobachten. Eine georgischstämmige deutsche Staatsbürgerin in NRW nahm zehn Saisonarbeiter*innen bei sich zu Hause auf, bevor die Frauen in die Heimat zurückkehrten.
Erste Fälle in Tiflis vor Gericht, hoffentlich auch bald in Friedrichshafen
Die Rechtsanwältin Tamila Gabaidze vertritt derzeit 21 Saisonarbeiter*innen in Tiflis vor Gericht. Das Ziel ist, dass ihre Mandant*innen den Lohn erhalten, der ihnen vertraglich zugesichert worden war. Dabei geht es in jedem einzelnen Fall immerhin um knapp über 1000 Euro. Diese Differenz müsse dann gegebenenfalls der georgische Staat bezahlen, findet Gabaidze.
Margarete Brugger hat den Georgier*innen geholfen, ihre Klage bei der Rechtsantragsstelle des Amtsgerichts in Friedrichshafen einzureichen. Noch steht die Entscheidung aus, ob die Rechtsantragsstelle eine Klage gegen die Hofbesitzer auf den Weg bringt.
Sollte das so kommen, wäre das zumindest ein erster Sieg. Ein Sieg, der vielleicht auch Arbeitskräfte aus Rumänien und Polen dazu ermutigen könnte, sich endlich zur Wehr zu setzen. Bislang nimmt ein Großteil von ihnen die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen noch hin. Noch. Doch da sind die Georger*innen. Und vielleicht werden sie, nach der Rosenrevolution, ein zweites Mal Geschichte schreiben.