Allianzen der Gemeinten schmieden: Gender und Reproduktion zusammendenken mit Judith Butlers „Who’s Afraid of Gender?“

Artikel

Die globale Anti-Gender-Bewegung verweigert die Anerkennung von Geschlechtervielfalt und will zurück zu einem binären Verständnis von Geschlecht. Gleichzeitig werden die Rechte und die Sicherheit von marginalisierten Personen, FLINTAs, LGBTQIA+-Personen bedroht. Wie genau hängt das zusammen? Eine Analyse.

Das Weiße Haus, Präsidentschaftssitz der USA, ist leicht schräg im Fokus der Betrachtenden. Davor, in leichter Unschärfe zeichnet sich ein Demonstrationszug mit LBGTQIA+ Flaggen ab.

Dieser Beitrag ist als Fachartikel angelegt. Er führt in das Buch „Who`s Afraid of Gender“ [1] von Judith Butler ein. Da das Buch noch nicht auf Deutsch erschienen ist, sind Zitate aus dem Buch auf Englisch belassen (Seitenzahlen jeweils in Klammern gesetzt). Das Lesen erfordert also Englischkenntnisse, um die Zitate zu verstehen. 

Zum Buch „Who’s Afraid of Gender“ [1]

Das Buch ist eine pointierte Zusammenfassung globaler antifeministischer Akteur*innen und Netzwerke, die sich gegen Gender und für eine Ordnung der Welt entlang binärer Kategorien einsetzen. Es trägt dazu bei, zu verstehen, welche großangelegten politischen Projekte und Netzwerke gerade weltweit versuchen, „Gender“ als Gegenstand von wissenschaftlichen, akademischen, medizinischen und aktivistischen Debatten und Lebenswelten in Frage zu stellen und damit massiv dazu beitragen, die Sicherheit und das Wohlergehen vieler Menschen aktiv zu gefährden. 

Dieser Artikel greift die Frage nach dem Zusammenhang von Gender und Reproduktion vor dem Hintergrund der sich überschlagenden politischen Ereignisse der Gegenwart seit der Wiederwahl Trumps auf. Es ist der Versuch, ein gemeinsames Nachdenken über die Zusammenhänge und ein an Allianzen orientiertes Zusammenhandeln gegen die Anti-Gender-Bewegung mit Hilfe von Butlers Arbeit anzuregen. Welche Bedeutung “Gender” in der Anti-Gender-Bewegung hat und wie deren Angriffsziele miteinander verbunden sind, wird verständlich in Judith Butlers 2024 erschienenem Buch “Who’s Afraid of Gender?”.

Butlers Analyse erklärt, welches Projekt der Entrechtung, der Angriffe auf Demokratie und Menschenrechte in den USA und global mit staatlicher Macht vorangetrieben wird. Im Angriff auf Gender werden geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung und Rechte zusammen bedroht. Der staatliche und gesellschaftliche Schutz vulnerabler, marginalisierter und diskriminierter Communitys soll abgeschafft werden.

Die solidarischen Allianzen der verschiedenen, von der globalen Anti-Gender-Bewegung Gemeinten, können den Widerstand stark machen. 

Der Kampf gegen Gender, Vielfalt und Antidiskriminierung hat mit den Dekreten des im Januar 2025 zweitmalig inaugurierten Präsidenten der USA eine neue macht- und gewaltvolle Form angenommen. Das hat globale Auswirkungen und stärkt sowohl Rechtsextremismus als auch die Anti-Gender-Bewegung enorm. Hoffnung, Handlungsfähigkeit und Möglichkeitsräume für Bündnisse all derer, die von diesem Kampf gemeint sind, müssen darum permanent belebt werden. Die solidarischen Allianzen der verschiedenen, von der globalen Anti-Gender-Bewegung Gemeinten, können den Widerstand stark machen. Dafür ist es wichtig, die Augen nicht vor dem zu verschließen, was aktuell forciert wird. Wir dürfen uns nicht überwältigen lassen von der Entrüstung oder vor Fassungslosigkeit erstarren, so Butler jüngst im Guardian. Wir müssen verstehen, was passiert und wie die verschiedenen Formen der sadistischen und faschistischen Entrechtung zusammenhängen. 

Das Ziel der Anti-Gender-Agenda des millionenschweren Präsidenten Trump wird in seiner Antrittsrede klar:

“This week, I will also end the government policy of trying to socially engineer race and gender into every aspect of public and private life. (Applause.) We will forge a society that is colorblind and merit-based. (Applause.) As of today, it will henceforth be the official policy of the United States government that there are only two genders: male and female. (Applause.)“.

 

Die gewaltvolle Wiederherstellung der zweigeschlechtlichen Ordnung

Trumps Ansage zeigt: Im gegenwärtigen Kampf gegen Gender geht es um die massive und penetrante Wiederherstellung einer biologistisch verstandenen Zweigeschlechtlichkeit. Mit diesem gewaltvollen Restaurationsprojekt wird die patriarchale, rassistische und heteronormative Gesellschaftsordnung der Ungleichheit legitimiert, aufrechterhalten und in einer faschistoid verdrehten Umkehr vor dem phantasierten „woken“ Angriff geschützt.

Alle, die suchen und probieren, die Offenheit und Vielfalt von Geschlecht, Sexualität und damit auch Reproduktion leben und genießen wollen, werden ihrer Möglichkeiten beraubt. Alle, die nicht passen, werden ausgeschlossen, in ihrer Existenz negiert und diskriminiert. Trans*, inter* und nicht-binären Personen (tin*) und den LGBTQIA*-Communitys werden Räume und Lebensmöglichkeiten genommen. Das macht Angst und ist gewaltvoll. Besonders für die Vielen, die in der weißen, heteronormativen und cis-geschlechtlichen Mehrheitsgesellschaft noch von weiteren Ungleichheitsstrukturen wie Rassismus, Ableismus und Klassismus betroffen sind. Es ist derzeit kaum einschätzbar, wohin das führen wird, auch wenn hoffnungsvolle Community-Stimmen dieser Tage davon ausgehen, dass die Wirkung der Dekrete weder sofort eintreten noch dauerhaft sein wird und auch weil bereits, teilweise erfolgreich, von verschiedenen Initiativen geklagt wurde.

Gender ist zentral für Grundfragen der Demokratie: Gleichstellung, Gleichberechtigung und Gewaltschutz für Frauen und Queers.

Die komplexe staatliche Attacke auf Demokratie und Menschenrechte offenbart sich in besonderer Weise am Versuch des US-Präsidenten, den Begriff „gender“ aus der Sprache löschen und ihn durch „sex“ zu ersetzen. Dieser Schritt ist an Absurdität und Gefährlichkeit kaum zu überbieten. 

Dank Judith Butler ist es ja längst möglich zu verstehen, wie viel mehr als Biologie auch „sex“ ist, wieviel „gender“ also selbst in „sex“ steckt (170 ff). Gender hat viele Bedeutungen und Anwendungsmöglichkeiten, die vor allem eins gemeinsam haben: ein Verstehen(wollen) der Bedingungen und Wirkungen von Geschlecht für Individuen und Gesellschaften, für Institutionen, Strukturen, Politiken, für jeden Bereich des Sozialen. Gender stellt Fragen daran, wer wir sind und ist zugleich relevant für große gesellschaftliche Felder wie Medizin, Wissenschaft und Ökonomie, für die Trennung der öffentlichen und privaten Sphären, die Organisation von Arbeit und so viel mehr. Gender bietet die Möglichkeit, strukturelle Ungleichheiten zu analysieren (185 ff). Mit Gender lassen sich Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten hinterfragen. Gender ist zentral für Grundfragen der Demokratie: Gleichstellung, Gleichberechtigung und Gewaltschutz für Frauen und Queers. Nicht zuletzt ist Gender unauflöslich mit generativer sowie sozialer Reproduktion und den damit verbundenen Rechten verwoben.

Es gibt jedoch nicht wenige Menschen, die meinen, es handle sich bei reproduktiven Rechten und Gender um zwei verschiedene Welten – auch Feministinnen. Der feministische Kampf gegen Abtreibungsverbote, für den freien Zugang zu Verhütungsmitteln, sexuelle Selbstbestimmung, gegen FGM/C, gegen Zwangsheirat und geschlechtsspezifische Gewalt lässt sich in dieser Lesart als antipatriarchaler Kampf für Frauenrechte verstehen, der mit Gender nichts zu tun hat. Und nicht nur das: Gender kann in solchen feministischen Strömungen als Ideologie erscheinen, die den Kampf für Frauenrechte und Schutzräume vermeintlich bedroht und dementsprechend bekämpft werden muss. Das zeigt sich auch in Deutschland, etwa bei transfeindlichen Initiativen wie „Lasst Frauen sprechen“, „Frauenheldinnen“ oder der „Demo für Alle“.

Der Kampf gegen Gender verbindet rechtskonservative, rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen über die Netze des Antigenderismus als aktuelle Form des Antifeminismus nicht nur mit der Mitte der Gesellschaft, sondern auch mit bestimmten feministischen Strömungen. Klare Haltungen, Konflikte und auch Abgrenzungen sind unvermeidbar.

Besonders im Hinblick auf demokratische Gleichstellungsfragen ist es entlarvend und bedeutsam, sich den Begründungszusammenhang für Trumps Anti-Gender-Kampf anzuschauen. Das entscheidende Dekret (neben anderen gender- und vielfaltsbezogenen Dekreten) heißt übersetzt „Verteidigung der Frauen vor dem Extremismus der Gender-Ideologie und Wiederherstellung der biologischen Wahrheit in der föderalen Regierung“. Es spiegelt bereits im Namen nicht nur trans-/queerfeindliche und antifeministische Weltbilder wider, sondern auch jene von trans* exkludierenden Feministinnen. Die sich selbst als „genderkritische“ Feministinnen bezeichnenden Gruppen radikalisieren sich zunehmend mit einem geschlossenen Weltbild, das unter dem Aushängeschild des Schutzes von Frauen und Kindern erschreckend viele Parallelen zu den zentralen antifeministischen Narrativen „Gender-Ideologie“, „Natürliche Geschlechterordnung“ und „Frühsexualisierung“ aufweist. 

Die aktive Ablehnung von „Gender“ und die Verknüpfung mit einem abwertenden Ideologie-Vorwurf kommt aus vielen unterschiedlichen politischen Kontexten. Der Kampf gegen Gender verbindet rechtskonservative, rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen über die Netze des Antigenderismus[2] als aktuelle Form des Antifeminismus nicht nur mit der Mitte der Gesellschaft, sondern auch mit bestimmten feministischen Strömungen. Klare Haltungen, Konflikte und auch Abgrenzungen sind unvermeidbar. Dafür ist es wichtig, zu verstehen, wie die globale Anti-Gender-Bewegung aufgestellt ist und was in ihr als „Gender“ verstanden wird. 

Antikomplexes Verständnis von Geschlecht und Reproduktion

Die der Anti-Gender-Bewegung zugrundeliegende Überzeugung von der Natürlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit schlägt sich in der Definition von „weiblich“ und „männlich“ nieder, die in Trumps Dekret statuiert wird: Einzig entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit einer Person zu einem Geschlecht ist dabei die Produktion der „großen“ oder „kleinen“ „reproduktiven Zellen“ zum Zeitpunkt der Befruchtung („conception“). Biologisch gibt es jedoch noch Wochen danach überhaupt keine Ausdifferenzierung von Zellen, die für Geschlechtsmerkmale oder Fortpflanzung bedeutsam wären. Diese definitorische Reduktion von Geschlecht zielt in ihrer Falschheit darum auch auf etwas anderes: Sie bezieht sich auf das, was im biologistischen Verständnis von Geschlecht vermeintlich nicht negiert werden kann, die Keimzelle. Sie verbindet den Personenstatus im radikalsten Sinne bereits mit der Befruchtung und legt damit den Grundstein für die weitere Abschaffung reproduktiver Rechte. Je früher ein Mensch als Frau oder Mann definiert ist und nur dadurch Personenstatus erhält, desto schwerer wird es, Abtreibung zu legitimieren.

Trumps antikomplexe Definition vermeidet jegliche Erwähnung menschlichen, gesellschaftlichen und sozial kontextualisierenden Handelns in Bezug auf Geschlecht. Sie legt den Zeitpunkt einer vermeintlich endgültigen Klärung des Geschlechts auf die Befruchtung fest. Der fast überraschende Wegfall der vormals zentrierten Frage nach den Genitalien verhindert eine Bezugnahme auf den ersten offiziellen Akt zur Zuweisung eines Geschlechts direkt nach der Geburt. Trumps Definition von Geschlecht negiert die Lebensrealitäten von trans*, nicht-binären und genderqueeren Menschen. Sie ist außerdem biologisch nicht haltbar durch die völlige Ignoranz der Vielfalt und der zeitlichen Entwicklung möglicher Kombinationen biologischer Geschlechtsmerkmale, von denen Intergeschlechtlichkeit eine Variante ist. Verunmöglicht wird dadurch auch, so scheint es zumindest der Plan zu sein, Diskriminierung in den USA auf der Basis von „sex“ anzuklagen, da die neue Definition von „sex“ queere Personen nicht mehr vor Homophobie und Transphobie schützt (114). 

Im Anti-Gender-Kampf wird Geschlecht in einer deterministisch verkürzten Definition so eng an biologische Reproduktion gebunden, dass der Effekt eine absolute Naturalisierung beider ist. 

Deutlicher als in dieser Definition von Geschlecht kann die Verbindung von Gender und Reproduktion kaum hervortreten. Im Anti-Gender-Kampf wird Geschlecht in einer deterministisch verkürzten Definition so eng an biologische Reproduktion gebunden, dass der Effekt eine absolute Naturalisierung beider ist. Durch das totale Gender-Verbot wird jegliche Verbindung von Geschlecht mit sozialen Fragen, rechtlichen Aushandlungen, gesellschaftlichen, historischen und politischen Prozessen untersagt. Dabei soll nicht nur „gender“ als Wort verboten werden, sondern die Verbindung einer basalen gesellschaftlichen Ungleichheitskategorie, mit den Verhältnissen von Macht, Ungerechtigkeit und Gewalt, die Gender hervorbringen und immer wieder bestätigen. Das Gleiche gilt für die Bedingungen von Reproduktion. Damit soll diesen vergeschlechtlichten Themenfeldern, Strukturen und gesellschaftlichen Phänomenen die Basis einer komplexen, gründlichen und zugänglichen Analyse entzogen werden (22). Die Analyse und das Wissen um Geschlecht als hierarchisierende Strukturkategorie, um vergeschlechtlichte Machtbeziehungen und alle intersektionalen Verbindungen zu weiteren Diskriminierungsformen, also das Feld der Geschlechterforschung, sollen abgeschafft werden. So kann die gesellschaftliche und staatliche Ordnung der hierarchisierenden Ungleichheiten und gewaltvollen Machtbeziehungen gesichert und gestärkt werden. Und zwar auch dadurch, dass Kritiker*innen die Worte genommen werden, um diese Ungleichheiten zu beschreiben und zu bekämpfen.

Die durch die Anti-Gender-Kämpfe gekappten komplexen Verbindungen zwischen einem sozialen und politischen Verständnis von Gender einerseits und von Reproduktion in ihren gesellschaftspolitischen Bedingungen andererseits müssen dennoch weiterhin zusammengedacht werden. Davon profitieren bei Weitem nicht nur queere Menschen, sondern auch jene, die sich in der Zweigeschlechtlichkeit und ihrer hierarchischen Ordnung passend fühlen oder ihr nicht entkommen können – auch ihre Möglichkeitsräume werden erweitert. Dieses Zusammendenken ist nötig, weil die solidarischen Allianzen all derer, die gemeint sind vom Antifeminismus und Antigenderismus und nicht zuletzt ihrer Unterstützer*innen enorme Bedeutung für Hoffnung, Leben und Freiheit von Angst in der Gegenwart haben. 

Anti-Gender-Akteur*innen zusammen denken: Das globale Restaurationsprojekt

Judith Butler macht in „Who’s Afraid of Gender?“ ein Zusammendenken weltweit gleichzeitig oder nebeneinander stattfindender Angriffe auf das möglich, was von unterschiedlichen Akteur*innen als „Gender“ vorgestellt wird. Butler zeigt, wie sich diese Akteur*innen in einer globalen Anti-Gender-Bewegung zu einer zunehmend staatlich gesicherten Front formieren. 

Diese Bewegung eint das Ziel, etwas wiederherzustellen, was so nie existiert hat. Es ist, so Butler, ein kollektiver Traum von der Restauration einer wahlweise harmonischen, natürlichen oder göttlichen binären Geschlechterordnung. 

„Gender here is a psychosocial scene, a public way of dreaming, for the past that anti-gender proponents seek to restore is a dream, a wish, even a fantasy that will reinstate order grounded in patriarchal authority.” (15)

Das Buch beschreibt, wie die autoritäre und patriarchale Ordnung von politisch, staatlich und religiös einflussreichen Netzwerken des antigenderistischen Restaurationsprojekts nicht nur erträumt, sondern gewaltvoll erkämpft wird.

Die zunehmende Absicherung des Anti-Gender-Projekts durch staatliche Gewalten, auch die der Gerichte, lässt seinen autoritären, sogar faschistischen Charakter zutage treten.   

Die zunehmende Absicherung des Anti-Gender-Projekts durch staatliche Gewalten, auch die der Gerichte, lässt seinen autoritären, sogar faschistischen Charakter zutage treten. Es setzt an der massiven Restriktion einer Bandbreite politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Felder an. Dazu gehören Abtreibungs- und Selbstbestimmungsrechte, die Rechte von trans* Personen und cis-Frauen, die Kämpfe von queeren BIPoC (Black, Indigenous and People of Color), von Alleinerziehenden und für neue queere Familienformen. Dazu gehört der Zugang zu geschlechtsaffirmierender Gesundheitsversorgung, zu reproduktiven Technologien, zu sexueller Bildung und Büchern (248). Der Antigenderismus verbindet so alle von ihm gemeinten Themen und Communitys rund um die Bereiche Reproduktion, Sexualität und Gender.

Innerhalb der USA wird das patriarchale Restaurationsprojekt der Anti-Gender-Bewegung bereits seit einigen Jahren umgesetzt: durch homo- und transphobe Restriktionen etwa von vielfaltsorientierter Bildung zu Körpern, Sexualität und Geschlecht an Schulen und von genderaffirmativer Gesundheitsversorgung (100 ff). Deren extrem gewalttätige Abschaffung macht Trump nun durch ein eigenes Dekret möglich. Verschlimmert haben sich diese Entwicklung seit der Aufhebung von Roe v. Dobbs in vielen US-Bundesstaaten.

Die fundamentalistischen Anti-Gender-Kämpfe und Narrative sind weltweit zu staatlichen Politiken geworden, die sich in extrem diskriminierenden Gesetzgebungen niederschlagen. 

Doch schon seit Langem tobt der Kampf außerhalb der USA, wo Gender, unter anderem aufgrund von Übersetzungsfragen, auf je spezifische Vorbehalte und Angriffe stößt (Butler widmet der „Disturbance of Translation“ ein eigenes Kapitel). Seit circa 30 Jahren kämpft der Vatikan – an vorderster Front war dabei der Deutsche Joseph Ratzinger, dann Franziskus – gegen eine Bedrohung des „anthropologischen Faktes“ der universellen „natürlichen Familie“ und der gottgegebenen „Komplementarität“ von Mann und Frau. Die Bedrohung erwächst für den Vatikan durch ein historisches und kulturelles Verständnis von Geschlecht, durch sexuelle Freiheiten und durch „soziale Fragmentation“ (73 ff.). Der vatikanische Vorwurf an Gender reicht schließlich bis zur Unterstellung eines ideologischen,  diktatorischen oder totalitären Versuchs, Natürlichkeit zu zerstören und Kinder zu gefährden, zu rekrutieren, zu indoktrinieren (79) und – bis zum externalisierenden Vorwurf der katholischen Kirche – Kinder zu missbrauchen (85). Der gottgegebenen Ordnung der Binarität und der daraus folgenden natürlichen Reproduktion kann demzufolge nur die Ablehnung von Abtreibung, Verhütung, queerem Sex, transgender und sogar „intersex identity“ (80) entsprechen. Hinzu kommt eine weitere spezifische Anschuldigung des Vatikans, Gender-Ideologie sei kolonisierend. Diese den Kolonialismus relativierende und erneut externalisierende Anschuldigung bearbeitet Butler ausführlich mithilfe der Arbeiten zu Kolonialismus und Geschlecht von Hortense Spillers, Maria Lugones, Aníbal Quijano, Oyèrónké Oyewùmi und Zethu Matebeni (212 ff).

Die fundamentalistischen Anti-Gender-Kämpfe und Narrative sind weltweit zu staatlichen Politiken geworden, die sich in extrem diskriminierenden Gesetzgebungen niederschlagen. Das zeigt sich an Bolsonaro in Brasilien, Putin in Russland („Gayropa“), Orban in UngarnMeloni in ItalienErdogan in der Türkei  (Austritt aus der Istanbul-Konvention) mit ihren jeweiligen Verbündeten (43 ff). Global werden die Vulnerabelsten ihrer existenziellen Rechte, Sicherheiten und Lebensperspektiven beraubt. Und auch Deutschland steht am beängstigenden Scheideweg, unfassbarerweise trotz seiner faschistischen, nationalsozialistischen Geschichte der systematischen Auslöschung der Vulnerabelsten.

Zur Anti-Gender-Bewegung gehören auch, wie Butler zeigt, derzeit noch zu unbemerkt agierende, sehr aktive Netzwerke fundamentalistischer Christ*innen sowie weitreichende Organisationen und Plattformen, die sich der Restauration der traditionellen, heteronormativen Familie widmen, wie die International Organization for the Familiy, die American College of Pediatricians (ACP), der World Congress of Familys (WCF) oder CitizenGo (48 ff). In Europa ist die Agenda Europe ein beängstigendes Netzwerk. In der „globalen Szene“ der Anti-Gender-Bewegung wächst, so Butler, der Einfluss evangelikaler, christlicher Moral zudem dadurch, dass neoliberale Politiken zu einer zunehmenden Übernahme sozialer Dienste von den Kirchen geführt haben. Auch andere globale Finanz- und vor allem Schuldenzusammenhänge spielen eine Rolle: Gender-Mainstreaming und Nicht-Diskriminierungs-Politiken als Regulierung des Zugangs zu einem neokolonialen und ausbeuterischen Europa und dessen finanziellen Ressourcen kann zu Ablehnung von Gender führen über die Ablehnung der globalen Schuldenpolitiken (62). 

Neu ist allerdings, dass sich der antifeministische Schulterschluss bis in die gesellschaftliche Mitte unter dem zentralen Narrativ der „Gender-Ideologie“ vollzieht. 

Auch auf einzelne Organisationen in den USA weist Butler hin, etwa „Sex Matters“ von trans-exkludierenden Feministinnen (208). Die sogenannten Trans* Exclusionary Radical Feminists (TERFs), insbesondere in Großbritannien, beschreibt Butler in einem ganzen Kapitel als Teil der Anti-Gender-Bewegung und befragt mit ihnen ausführlich und geduldig das Verständnis und die Grundlagen der feministischen Bewegung, die laut Butler nur intersektional und solidarisch sein kann (mehr dazu weiter unten).

Die Gruppe „Do No Harm“ bekämpft im Einsatz gegen gender-affirmative Gesundheitsversorgung von jungen trans* Personen (108) interessanterweise auch die Critical-Race-Theory. Ebenso auch Akteur*innen, deren Agenda vormals Gender nicht derartig zentral gesetzt hatten wie gegenwärtig: Die Heritage Foundation, the Discovery Institute, The American Legislative Exchange Council, Parents Defending Education, Citizens for Renewing America, Moms for Liberty, No Left Turn, National Organisation for Marriage (50). 

All das ist nicht gänzlich neu. Auch in Deutschland gibt es in der extremen Rechten seit mehr als 15 Jahren die Feindbild-Erzählungen vom „Genderwahn“. Neu ist allerdings, dass sich der antifeministische Schulterschluss bis in die gesellschaftliche Mitte unter dem zentralen Narrativ der „Gender-Ideologie“ vollzieht. Und neu ist auch, vor allem für den Feminismus, dass die TERFs, diese „anti-gender partisans within feminism“ (135), ihre diskriminierenden Standpunkte mit der wachsenden Anti-Gender-Bewegung, mit der rechten und rechtsextremen Bewegung teilen.

Auf der Seite der vom Antigenderismus Gemeinten spiegelt das eine Vielzahl und damit eine relevante Masse angegriffener, marginalisierter Personengruppen und Communitys wider. 

Die verschiedenen Akteur*innen der Anti-Gender-Bewegung verfolgen je unterschiedliche Agenden, kämpfen aber gemeinsam gegen die postulierte Gender-Ideologie. Butler macht deutlich, dass keine Konsistenz in der Anti-Gender-Bewegung nötig ist, um effizient zu sein. Im Gegenteil führen Widersprüchlichkeiten eher zu einem größeren Einfluss durch die enorme Bandbreite an narrativen Anknüpfungspunkten: 

„Depending on the anxieties circulating in a particular region, gender can be figured as Marxist or capitalist, tyranny or libertarianism, fascism or totalitarianism, a colonizing force or an unwanted migrant.“ (63) 

Auf der Seite der vom Antigenderismus Gemeinten spiegelt das eine Vielzahl und damit eine relevante Masse angegriffener, marginalisierter Personengruppen und Communitys wider. Attacken auf die vermeintliche „Gender-Ideologie“ sind gleichzeitige Angriffe sowohl auf die feministische Bewegung und deren Kampf um reproduktive Rechte als auch auf die LGBTQIA*-Community und deren Rechte (67). Hoffentlich kann diese Erkenntnis zu effektiven und solidarischen Allianzen der vielfältigen Gemeinten führen.

Personen auf einer Demonstration tragen ein SChild auf dem steht: "Biology was never binary" (dt.: "Biologie war nie binär"). Das Schild ist in den Farben der Nichtbinärflagge gehalten: Gelb, Weiß, Lila, Schwarz.

Als zerstörerisch phantasiert - aber von Zerstörung bedroht

Das Leben der Verletzlichen und ihrer Unterstützer*innen ist in Gefahr durch das destruktive und zugleich ambitionierte Restaurationsprojekt der Anti-Gender-Bewegung, die eine grundsätzliche Überzeugung teilt: Hinter Gender stecke eine Ideologie, welche Ordnung (vor allem die zweigeschlechtliche) und Sicherheit, die Familie und die Nation zerstört. 

Legitimationsgrundlage für den faschistoiden Kampf gegen das Phantasma „Gender“ ist fast immer die postulierte Notwendigkeit von Schutz. 

Diese paradoxe, verdrehte Vorstellung von Gender versteht Butler als Ausdruck eines Phantasmas („phantasm“) und einer durch eine bestimmte Struktur und Sprache/Syntax geordnete „phantsmatic scene“ der Anti-Gender-Ideologie (10). Der Ideologievorwurf ist dabei Teil der eigenen ideologischen Formation der Anti-Gender-Bewegung (27). Es könnte sein, so Butlers Argumentation, dass die Vorstellung von der Zerstörung durch Gender eine Projektion ist, welche den Akteur*innen die Spuren ihrer eigenen Aggressionen widerspiegelt („carrying and reflecting back to them the aggrevated trace of their own aggression“) (27). In dieser Projektion wird der sogenannten Gender-Ideologie eine Bandbreite an Angriffsflächen zugeordnet, die in der jeweiligen Logik der Anti-Gender-Akteur*innen ideologische Kampffelder sind, während die aufgerufenen Themen für Betroffene mit existenziellen Rechten bzw. Ängsten einhergehen.

Die phantasmatische Zerstörungskraft von „Gender“ verleiht in der paradoxen antigenderistischen Logik die Erlaubnis und Legitimation zu diskriminieren und zu zerstören:  mit Zensur, Angriffen auf Gender Studies, auf Gesundheitsversorgung, mit Pathologisierung, der Beschränkung öffentlicher Räume, der Verhinderung von Antidiskriminierungsgesetzen, mit Silencing und Kriminalisierung derer, die ihr Leben ohne Angst leben möchten. 

“The targeting of sexual and gender minorities as dangers to society, as exemplifying the most destructive force in the world, in order to strip them of their fundamental rights, protections, and freedoms, implicates the anti-gender ideology in fascism.” (8)

Legitimationsgrundlage für den faschistoiden Kampf gegen das Phantasma „Gender“ ist fast immer die postulierte Notwendigkeit von Schutz. Geschützt werden muss in der legitimierenden Rationalität der Anti-Gender-Bewegung vor allem die naturalisierte Familie aus Mann, Frau und Kindern als Keimzelle der Gesellschaft, des Glaubens, der Nation. Der besondere Schutztopos der TERFs zentriert spezifischer Frauen und Kinder, letztere dienen aber der gesamten Anti-Gender-Bewegung als Legitimation (249). Der Schutz der „natürlichen Familie“ reproduziert die Nation entlang heteronormativer und rassistischer Linien. Die Restauration von „natürlicher Reproduktion“ reguliert Leben und Tod, Bürgerschaft und Staat (51 ff). Damit einher geht eine starre Aufrechterhaltung der hierarchisierenden Zweigeschlechtlichkeit. Das schafft gewaltvolle Ausschlüsse und Verwerfungen, unter denen die Marginalisierten und Vulnerabelsten leiden müssen – jene, die eigentlich geschützt werden müssten. 

Die als zerstörerisch dargestellten, aber tatsächlich von Zerstörung bedrohten Communitys werden ihrer reproduktiven, geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung und Rechte beraubt, während auf sie paradoxerweise eine imaginierte und omnipotente Zerstörungsmacht projiziert wird.

Der phantasmatische Fokus auf Gender – erweiterte Krisenerklärungen

Butler wird nicht müde zu fragen, wie sich die verdrehte, phantasmatische Vorstellung von Gender als zerstörerischer Kraft, „as a thread to humanity, civilization, ‚man‘, and nature“ (247) so wirkmächtig etablieren konnte. Die zentrale Frage des Buchs ist: 

„What kind of phantasm has gender become, and what anxieties, fears, and hatreds does it collect and mobilize?”  (36) 

Die Suche nach Antworten wird gerahmt mit einer Art psychosozialen Untersuchung (252). So kommt Butler dazu, die etablierten und gegenwärtigen Erklärungen für Autoritarismus als im weitesten Sinne Krisenphänomen um eine bedeutsame Komponente zu erweitern, die sich eben nur mit Gender als Analysetool denken lässt. Zunächst betrachtet Butler das Krisenphänomen spezifischer unter dem Topos der Zerstörung, die dem Phantasma Gender angelastet wird. Ausgangspunkt ist dabei die wahrgenommene, reale und angstauslösende Bedrohung durch die Zerstörung der Welt wie wir sie kennen. Identifizierbare Bedingungen für diese Zerstörung wären laut Butler:  Klimakatastrophe, systemischer Rassismus, Krieg, soziale und ökonomische Ungleichheit, kapitalistische Ausbeutung, zunehmende Prekarität, patriarchale Strukturen, Neoliberalismus, Deregulation, Autoritarismus, neue Formen von Faschismus (247 ff). An den dadurch entstehenden Ängsten setzten, so Butler, politische Akteur*innen gezielt an, entflammen sie, sortieren sie neu und verlagern sie auf das Phantasma Gender: 

The displacement of this fear of destruction from ist identifiable conditions of production […] results in the production of ‚cultural‘ figures or phantasms invested with the power to destroy the earth and the fundamental structures of human societies.“ (247)

Laut Butler lässt die Externalisierung der Angst auf Menschengruppen und elitäre Mächte das Phantasma „Gender“ mit der Macht zur Zerstörung der Welt und der fundamentalen Strukturen menschlicher Gesellschaften entstehen. (249) 

Der paranoide, phantasmatische Fokus auf die Verleugnung jeglicher Realitäten jenseits der Geschlechterbinarität bestimmt die gegenwärtige, bedrohliche politische Lage. 

Soweit, verkürzt, die spezifische Krisenerklärung der Anti-Gender-Bewegung durch Butler. Doch „Who’s Afraid of Gender?“ fragt noch tiefer nach dem, was die Angst vor Zerstörung eigentlich ausgerechnet an das Phantasma Gender bindet. Warum steht Gender im Fokus der Rechten? Butler führt aus: Die Anderen (jene, die von der Norm der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit abweichen) leben das, was für das heteronormative Selbst undenkbar ist und werden darum verleugnet. Denn das Selbst ist in einer naturalisierten, binären und heterosexuellen Geschlechtszuordnung so tief verankert, dass diese kaum in Zweifel gezogen werden kann. Die binäre Ordnung ist zudem eng mit dem eigenen Ego, dem intimen Empfinden des eigenen verkörperten Seins und sogar mit der Vorstellung von Menschsein an sich verbunden. Jede Infragestellung, jedes Auftauchen von Queerness, ist dementsprechend undenkbar und wird als Angriff auf das Selbst, sogar auf das Menschliche an sich verstanden. Wenn diese Anderen also dennoch erscheinen können, dann nur als Phantasmen mit der Macht der Zerstörung eines heteronormativen Selbst. Die Anderen werden zu einem Angriff auf das Menschliche: Monster und Phantasmen, die jene sexuelle Ordnung zerstören, welche, so Butler, stillschweigend die Architektur des transphoben Egos reproduziert. Die Verwerfung des Gedankens trans* führt zu einem paradoxen paranoiden Phantasma: Die Rechten und ihre trans-exkludierenden Verbündeten denken die ganze Zeit über trans* Personen nach. (253f) Der paranoide, phantasmatische Fokus auf die Verleugnung jeglicher Realitäten jenseits der Geschlechterbinarität bestimmt die gegenwärtige, bedrohliche politische Lage. 

Gender – mehr als Identitätspolitik. Für intersektionalen Feminismus

Gender ist – anders als unterstellt – mehr als Identität oder Identitätspolitik. Gender ist aber selbst in der Bedeutung als Identität komplexer als eine subjektive oder auch community-basierte Identifikation. Butler schreibt: 

„To inhabit a gender is to live out a certain historical complexity that has become possible for the lives we live now.“ (29)

Ein veränderbares, soziales Verständnis von Geschlecht, das eben nicht an die Biologie bindet, ist eine urfeministische Haltung 

Menschen, die in und mit einem Geschlecht leben, tun dies in einer bestimmten historischen Konstellation von Möglichkeitsräumen. Diese haben sich erweitert in den vergangenen Jahrzehnten. Sie verengen sich nun durch die radikale Attacke auf ein komplexes Verstehen von Geschlecht und damit auf das klassischste Anliegen der feministischen Bewegung. Ein veränderbares, soziales Verständnis von Geschlecht, das eben nicht an die Biologie bindet, ist eine urfeministische Haltung (Simone de Beauvoir: „Man wird nicht als Frau geboren…“). Ebenso klassisch feministisch ist die Möglichkeit, die jeweils historisch, gesellschaftlich oder kulturell angebotenen Geschlechtskategorienzurückweisen zu können. 

„Gender categories change through time, and feminism has always relied on the historically changing character of gender categories in order to demand changes in the way that woman and men are defined and treated.“(137) 

Die Veränderlichkeit von Geschlechtskategorien beinhaltet auch die Möglichkeit, mit der Identität als Frau verwobene Anforderungen ablehnen zu können. Ein Beispiel ist die Ablehnung von Mutterschaft, aufgrund von unterschiedlichsten Lebens- und Beziehungsumständen, mit einer Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch. An den Debatten und Kämpfen um die Ent-/Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wird die Verbindung von Gender und Reproduktion übrigens besonders deutlich: Die Anrufung zur Mutterschaft, der Druck oder Zwang zu gebären und eine Mutter zu werden, gehört zur Vorstellung von Weiblichkeit und der Identitätskategorie „Frau“. Das beinhaltet eine, wenn nicht gar unvermeidliche, so doch mindestens zu affirmierende Verbindung zwischen dem körperlichen Organ Uterus und der Idee der Erfüllung eines sorgenden Schicksals mit all seinen familistischen Konsequenzen. Das Begehren von Abtreibungsgegner*innen, gebährfähige Körper zum Gebären zu drängen – auch durch gesellschaftlich tief eingeschriebene Strategien der Stigmatisierung – und ungewollt schwangere Personen zur Mutterschaft, ist antifeministisch. Es richtet sich gegen erkämpfte feministische Errungenschaften wie Selbstbestimmung über das eigene vergeschlechtlichte Leben (nicht nur den Körper), Gleichberechtigung und Gleichstellung und damit auch gegen umfassende demokratische Partizipation. Das widerspricht klassischen feministischen Kritiken an Geschlechternormen und vielfältigen kritischen Auseinandersetzungen mit Geschlecht, also Gender. Denn worum es bei den Kämpfen um legale Abtreibung und reproduktive Rechte schließlich auch geht, sind vergeschlechtlichte Möglichkeitsräume und Vorstellungen von Gender, von einer naturalisierten gesellschafts- und staatsstrukturierenden, mit weiteren Achsen der Ungleichheit verwobenen Kategorie. 

Gender ist ein offener Begriff, es ist ein fluides Konzept. Gender wird gelebt, diskutiert, beforscht und vor allem mit Neugier, Interesse und Spannung kritisch befragt. 

Gender ist ein offener Begriff, es ist ein fluides Konzept. Gender wird gelebt, diskutiert, beforscht und vor allem mit Neugier, Interesse und Spannung kritisch befragt. So sind Frauen- und Geschlechterforschung entstanden, darum gibt es Gender Studies. Feminismus – mit all seiner Geschichte des Kampfes im Feld der Reproduktion – und Gender gehören zusammen: 

”It misrepresents both the history and promise of feminism to pit feminism against gender.” (203). 

Der Feminismus darf den Angriff auf Gender nicht mittragen, so wie es die selbst ernannten „genderkritischen Feministinnen“ tun. Aus einer queerfeministischen Perspektive besonders schmerzhaft ist die Erkenntnis, dass auch Feministinnen den paranoiden Fokus auf den Kampf gegen trans*, gegen das Phantasma Gender wählen, obwohl sie doch eigentlich aus dem Kampf für reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung, gegen patriarchale Gewalt und antifeministische Ausschlüsse kommen. Auch TERFSs radikalisieren sich ausgerechnet in einer bedrohlichen Gegenwart, in der ein inklusiver und intersektionaler Schulterschluss innerhalb der feministischen Bewegung existenziell nötig wäre für den Schutz, die Freiheiten, das Leben und Überleben von vulnerablen und mehrfach-diskriminierten Menschen. Stattdessen verweigern TERFs sogar eine simple respektvolle Akzeptanz der von trans*, inter* und nicht-binären Personen zum Ausdruck gebrachten Realitäten über ihr Leben, ihre Körper und Existenzen. Darüber muss gesprochen werden, und gestritten: 

„The alliance between anti-gender feminists and the reactionary Right‘s attack on gender deserves a larger discussion […]. This is not the same as simply having a different viewpoint and a reasonable disagreement, since the TERF stance is nullifying the claims that trans people make about their lives, their bodies, and their very existence.“ (148)

 

Es gibt einen Unterschied zwischen den Feministinnen, die Fragen stellen, Unsicherheiten und Sorgen offen bearbeiten und jenen, die bereits ein geschlossenes Weltbild haben – je nach Ausprägung und Radikalität trans*-, queer- oder tin*-feindlich und auch rassistisch. Feminismus aber muss intersektional sein und sich klar gegen diskriminierende Ausschlüsse in der Bewegung stellen. Der Schutz von Frauen und queeren Personen sowie von allen diskriminierten und marginalisierten Personengruppen muss ein solidarisches und gemeinsames feministisches Anliegen sein, in dem unterschiedliche Diskriminierungen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Butlers zentrale Frage an die feministische Bewegung ist dementsprechend ganz basal:

„First, is feminist politics a politics of alliance?“ (135).

Solidarische Allianzen können entstehen durch ein unterschiedliches, aber gemeinsames Betroffensein von der in einer gewaltvollen Binarität vergeschlechtlichten Ungleichheit und Ungerechtigkeit. 

Solidarische Allianzen können entstehen durch ein unterschiedliches, aber gemeinsames Betroffensein von der in einer gewaltvollen Binarität vergeschlechtlichten Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Diskriminierung und Gewalt darf in der strategischen Umkehr der realen Machtverhältnisse nicht den prekärsten und vulnerabelsten Communitys angelastet werden. Die feministische Bewegung hat eine Aufgabe als Antwort auf die aktuellen globalen Bedrohungen: gemeinsame, solidarische Kämpfe um Freiheit von Angst und verbündete Widerstände gegen eine Verdrehung von gelebten Realitäten, von tatsächlichen Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnissen. Denn durch diese Verdrehung von gewaltvollen und diskriminierenden Tatsachen werden ausgerechnet die Prekärsten dem Antigenderismus und den Rechten als phantasierte Gefahr ausgeliefert.

Gender und Reproduktion intersektional feministisch: Reproduktive Gerechtigkeit

Noch immer nicht selbstverständlich genug ist eine intersektionale Haltung, die Geschlecht nicht als monolithisch und singulär im antipatriarchalen Engagement betrachtet. Intersektionaler Feminismus beinhaltet die Erkenntnis, dass Geschlecht immer schon verwoben ist mit anderen Formen von Ungleichheit und Diskriminierung. Ein singulärer Kampf um sexuelle und reproduktive Rechte ausschließlich für eine binäre und biologisch verstandene Geschlechtskategorie kann ohne eine intersektionale Haltung nur bestimmte Gruppen von Frauen meinen und nur aus einer bestimmten cis-weiblichen Perspektive geführt werden. So werden Ungleichheiten reproduziert, wo ein breiter Einsatz für soziale Gerechtigkeit vonnöten ist.

Ein singulärer Kampf um sexuelle und reproduktive Rechte ausschließlich für eine binäre und biologisch verstandene Geschlechtskategorie kann ohne eine intersektionale Haltung nur bestimmte Gruppen von Frauen meinen und nur aus einer bestimmten cis-weiblichen Perspektive geführt werden. 

Das auf Intersektionalität aufbauende Konzept der Reproduktiven Gerechtigkeit kommt erst seit einigen Jahren in der deutschen feministischen Bewegung und Theoriebildung an. Auch hierzulande trifft Reproduktive Gerechtigkeit, wie bereits vor 30 Jahren in den USA, auf die Geschichte einer Pro Choice-Bewegung, die vor allem mit individueller Selbstbestimmung argumentiert hat und sich nun mit der Herausforderung einer intersektionalen Perspektiverweiterung befassen muss. Das heißt auch, die Erfahrungen von reproduktiver Unterdrückung aus der Perspektive marginalisierter Positionen zu berücksichtigen. Dabei sind kategoriale Sichtbarmachungen von unter anderem Rassismus, Klassismus, Ableismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit sowie die Kategorie Gender als Werkzeug zur Analyse unabdingbar. Gender kann die mit Reproduktion verwobenen strukturellen Ungleichheiten und Machtverhältnisse sichtbar und veränderbar machen.

Allianzen der Gemeinten – machtvoll in der Defensive

Der Anti-Gender-Bewegung geht es nicht nur um den Kampf gegen geschlechtliche Selbstbestimmung, gegen eine Identität, gegen trans*. Ebenso wie es bei den sogenannten Gender-Verboten nicht nur um Sprachgebrauch oder die Frage der Repräsentation von geschlechtlicher Queerness geht, sondern um  autoritäre Geschlechterpolitiken.  Damit sind auch bestimmte Vorstellungen von Reproduktion verbunden, die es nötig machen, deren Zusammenhang mit Demokratie unter die Lupe zu nehmen, denn die Anti-Gender-Bewegung erringt zunehmend staatliche Gewalten.

Wir, die Gemeinten, erleben derzeit schockiert, wie der Antigenderismus alle feministischen Anliegen mit Füßen tritt und wie die Anti-Gender-Bewegung in der Lage ist, global das Narrativ der Gender-Ideologie als Kampfzone zu etablieren, im Schulterschluss mit dem Rechtsextremismus. 

Wir, die Gemeinten, erleben derzeit schockiert, wie der Antigenderismus alle feministischen Anliegen mit Füßen tritt und wie die Anti-Gender-Bewegung in der Lage ist, global das Narrativ der Gender-Ideologie als Kampfzone zu etablieren, im Schulterschluss mit dem Rechtsextremismus. Wir spüren die Wirkung des Phantasmas Gender in den Communitys und in uns selbst. Es gibt allen Grund zu trauern um den Verlust einer bestimmten Idee von Gegenwart und Zukunft.

Was gibt uns Handlungsspielräume zurück und erlöst uns aus der ängstlichen Resignation? Mögliche Antworten gibt „Who’s Afraid of Gender?“ als Aufruf zum Zusammendenken und Zusammenhandeln. Es geht darum, solidarische Visionen zu denken und Allianzen zu schmieden. Die widerständige und kritische Kraft liegt in den Gegen-Imaginationen, die macht- und wirkungsvoll genug sind, den Grausamkeiten der Anti-Gender-Bewegung etwas entgegenzusetzen. 

“What form of critical imagination would be powerful enough to oppose the phantasm? What would it mean to create a form of solidarity and concerted imagining that would have the power to expose and defeat the cruel norms and sadistic trends that travel under the name of the anti-gender ideology movement?“ (36)

Es ist an der Zeit, einmal mehr gemeinsam nach den Antworten zu suchen. Nötig sind jetzt solidarische Allianzen all derer, die von der Anti-Gender-Bewegung gemeint sind. Gemeint sind alle, die in einer dem Antigenderismus opponierenden Weise und intersektional mit den Themenkomplexen Gender, Sexualität und Reproduktion verbunden sind. Nötig sind jetzt gemeinsame Hoffnungen, Handlungsfähigkeiten und Allianzen von Feminist*innen, von trans*, inter* und nicht-binären Personen, für LGBTQIA*-Räume und queere Rechte, für reproduktive Gesundheit und Gerechtigkeit, gegen geschlechtsbasierte und sexualisierte Gewalt. All das muss im Bewusstsein dessen geschehen, das viele von uns sehr viel stärker betroffen sind als andere, zum Beispiel, weil sie unter mehreren Formen von Diskriminierung zugleich leiden.

„This is a moment to ally ourselves along axes that are quite different from the ones that the Right has prepared for us. That means that feminists join with trans people, that gay marriage advocates join with those fighting for queer and trans bars and community spaces, that reproductive health is on every agenda for all kinds of women and men and non-binary people, as are protections against gender and sexual violence. And none of this will work if we fail to see how those most affected by these new forms of disenfranchisement are poor people of color in the ‘unfree’ states, that is, where abortion has been criminalized.” (131)

Es ist möglich, an die Macht von Communitys, Schulterschlüsse, eigene Politiken zu glauben, um gleichzeitig Schutz und Empowerment zu bieten. Die Defensive kann machtvoll sein. Die geteilte Betroffenheit lässt sich aneignen und nutzen. Nötig dafür ist auch die Überzeugung davon, dass das Restaurationsprojekt in Bezug auf Gender scheitern muss an den gelebten und erkämpften Realitäten der Vielfalt. In diesen Realitäten ist es immer wieder möglich, an einer Vision festzuhalten, die es vermag, Angst, Entrüstung und Resignation etwas entgegenzusetzen und an einem, derzeit vielleicht noch unbestimmbaren, Begriff von Freiheit – mindestens einer Freiheit von der Angst vor Gewalt.

„Taking a stand against the anti-gender-movement is done in the name of breathing and living free from the fear of violence. It is the beginning of the ethical vision we now require.” (28)

Gender-Politiken müssen, so Butler, eingebettet sein in sich ausbreitende solidarische Kämpfe für soziale und ökonomische Gerechtigkeit, gegen Prekarität, für einen freien Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Essen und eine lebbare Umwelt. Die Ent-Individualisierung des Verständnisses von Leben in dieser Welt muss dazu führen, dass Gender-Politiken sich gegen Neoliberalismus richten, gegen Kolonisierung, Rassismus und Anti-Migrationspolitiken (259). Denn nur im Anerkennen von gegenseitiger Verbundenheit und Abhängigkeit können wir überleben und mehr als das: 

“It is by virtue of our interdependency that we stand a chance of surviving and flourishing.” 


 


[1] Butler, Judith (2024): Who’s Afraid of gender? London: Allen Lane.

[2] Im Wissen um die Debatten und wichtigen Überlegungen zu einer passenden Bezeichnung der Anti-Gender-Bewegung wird in diesem Text Antigenderismus als Pendant zu Antifeminismus verwendet und befürwortet, um eine zugängliche Benennung des Phänomens zu ermöglichen.