Das Wahlprogramm der SPD – Vergessen oder weggelassen?
→ SPD: Für Europa: stark und sozial
Die SPD beruft sich in ihrer Selbstdarstellung als Partei auf ihre Wurzeln in der ArbeiterInnen- und Frauenbewegung und hat geschlechterpolitische Überlegungen daher systematisch in ihr Programm aufgenommen. Daher sind die Erwartungen an ein entsprechend sensibles Wahlprogramm groß.
Im 17 Textseiten langen Wahlprogramm nehmen geschlechterpolitische Überlegungen einen relativ deutlichen Raum ein. Der anderthalb Seiten langen Unterpunkt „Soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit“ ist hauptsächlich auf geschlechterpolitische Gleichstellungspolitik bezogen. Zudem wird in zwei weiteren einzelnen Abschnitten des Programms Bezug genommen auf Wahlfreiheit bei Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch eine geschlechtergerechte Sprache wurde konsequent durchgehalten.
In ihrem Programm formuliert die SPD ein „Europa der sozialen Gerechtigkeit und der Chancengleichheit“. In diesem Zusammenhang fordert sie eine aktive Gleichstellungspolitik. Sie konkretisiert dies, indem sie u.a. eine „gleichberechtigte Beteiligung von Frauen in Institutionen und Gremien der EU“ und entsprechende Maßnahmen und Vorgaben anregt. In der Frage nach der geschlechterpolitischen Ausgestaltung der EU fordert die SPD in ihrem Programm die Etablierung von Gender Mainstreaming als „umfassendes politisches Prinzip in allen Politikbereichen“. Auch in der Wirtschaft sollen nach dem Willen der SPD europäische Vorgaben zur Gleichstellung von Männern und Frauen in der Wirtschaft gemacht werden. Zudem will die SPD, dass die europäischen EU-Anti-Diskriminierungsvorgaben weiterentwickelt werden. Auch im Hinblick auf die europaweite Etablierung von sozialen Standards wird auf die Notwendigkeit von gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen und auf das Verbot von Kinderarbeit und Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf verwiesen.
Zudem fordert die SPD, den Aspekt der Geschlechtergleichstellung in die Folgenabschätzung bei allen Vorhaben der europäischen Rechtssetzung zu berücksichtigen. Dazu verweisen sie auf die entsprechenden Festlegungen des Vertrags von Lissabon. Auch will die SPD die Ausarbeitung einer europäischen Charta der Frauenrechte unterstützen. Allerdings werden im Programm der SPD weder an dieser noch an anderer Stelle Aussagen zur europaweiten Legalisierung von Abtreibung oder zum freien Zugang zu Verhütungsmitteln gemacht.
Im Programm wird zudem Kritik an der nach wie vor bestehenden Lohndiskriminierung von Frauen in Europa geäußert. Um dieser entgegenzuwirken, fordert die SPD eine „europäischen Initiative zur Verwirklichung der Lohngleichheit von Männern und Frauen mit klaren Zielvorgaben, Kontrollmechanismen und Sanktionsmöglichkeiten.“ Daneben wird der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten gefordert. Dies diene dazu, Wahlfreiheit bei den Lebensentwürfen „überhaupt erst zu ermöglichen“. Daher sollten im Hinblick auf die Kinderbetreuung quantitative Ziele durch qualitative Ziele ergänzt werden. Im gleichen Zusammenhang verlangt die SPD den Ausbau der Angebote für Pflege älterer Menschen.
Als ein Ausweg aus der aktuellen wirtschaftlichen Krise schwebt der SPD neben nationalem Engagement eine aktive europäisch geförderte Beschäftigungspolitik vor. Dazu soll u.a. eine „eine europäische Initiative zum Ausbau der Energie- und Breitbandinfrastruktur“ und zum Ausbau des Klimaschutzes und der Umweltbranche als Wirtschaftszweig dienen. Die Europäische Investitionsbank soll sich in diesen Bereichen stärker engagieren. Allerdings wird im Programm der SPD kein Bezug darauf genommen, inwieweit Frauen und Männer in diesen Wirtschaftszweigen gleich repräsentiert sind. Es steht zu befürchten, dass von einem solchen Investitionsprogramm vor allem männlich dominierte Branchen profitieren. Weibliche Arbeitslosigkeit kann auf diese Weise nicht bekämpft werden.
Allerdings benennt das Programm auch den Bereich der öffentlichen Dienstleistungen als wichtigen Gewährleistungsfaktor zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Auch wenn das Programm der SPD sich nicht konkret dazu äußert, kann angenommen werden, dass damit auch solche Beschäftigungsbereiche gemeint sind, in denen vermehrt Frauen arbeiten. Auch von der Forderung des SPD-Programms zum stärkeren Engagement des Europäischen Sozialfonds „zur schnelleren Eingliederung in den Arbeitsmarkt und zur Qualifizierung“ könnten Frauen Gewinn haben. Leider positioniert sich das SPD-Programm nicht entsprechend, so dass hier lediglich interpretiert werden kann.
Und auch in einem anderen geschlechterpolitisch sensiblen Bereich europäischer Politik bleibt das SPD-Programm erstaunlicherweise relativ unkonkret: Zwar wird eine europaweite Zusammenarbeit im Kampf gegen Menschenhandel gefordert, allerdings finden sich keine Analysen oder auch Politikentwürfe im Hinblick auf geschlechtsspezifische Migration, Schutz von verfolgten Frauen oder zum Zusammenhang von kriegerischen Konflikten, Gewalt und Geschlecht. Auch im Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit, der im Programm mehrere Abschnitte gewidmet sind, fallen keine geschlechterspezifsichen Aussagen. Lediglich auf die Menschenrechte und auf die bereits bestehenden Prinzipen der EU – die auch soziale Faktoren zur Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen – wird verwiesen, ohne diese auf Fragen nach dem Geschlechterverhältnis rückzubeziehen. Warum die SPD, die dazu sicherlich einen ausdrücklichen Standpunkt hat, diesen nicht in ihr Programm zur Europawahl aufgenommen hat, bleibt ihr Geheimnis.
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