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Wir müssen uns mehr um die Pflegekräfte kümmern: EU klammert Genderfragen in Zusammenhang mit der Altenpflege aus

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Caroline Ausserer: Ist die EU ein Akteur im Bereich Geschlechtergleichstellung und Geschlechterpolitik?

Professor Hanne Marlene Dahl: Ja, die EU hat versucht, Gender, Geschlechtergleichstellung und Gender Mainstreaming in unterschiedlicher Art und Weise auf ihre Tagesordnung zu setzen. Über den Erfolg lässt sich streiten; in jedem Fall hat man versucht, diese Themen als Reaktion auf Vorstöße von außen, durch Wissenschaftler, Politiker und NGOs, anzusprechen. Die EU hat zudem Fragen der Geschlechtergleichstellung in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und in Bezug auf eine Frauenquote in Unternehmensvorständen aufgeworfen und ist derzeit darum bemüht, unser Wissen über Gewalt gegen Frauen zu schärfen. Somit versucht die EU also, unterschiedliche Geschlechterthemen kleinteilig anzusprechen und stellt EIGE, der Behörde für Geschlechtergleichstellung in Vilnius, finanzielle Mittel bereit, um unser Wissen und unsere politischen Instrumente im Bereich Geschlechtergleichstellung zu verbessern.

C.A.: Was sind rückblickend Ihrer Meinung nach Erfolge und Misserfolge in dieser Hinsicht? Worin besteht Ihre Kritik?

H.M.D.: Meine Kritik bezieht sich darauf, dass sich die EU andere Prioritäten gesetzt hat, wie z.B. den sozialen Investitionsstaat, den globalen Wettbewerb in Bezug auf China und die USA und so weiter. Somit sind Geschlechtergleichstellung und Gender Mainstreaming, obgleich diese propagiert werden, stets von sekundärer Bedeutung. Kritisch gesprochen, kann man die Frage stellen, ob die EU systematisch die Geschlechterperspektive mit einbezieht und versucht, Geschlechtergleichstellung systematisch zu verbessern? Oder ob die gewählten Instrumente die passenden sind? Bisher hat es einen starken Fokus auf Gender Mainstreaming gegeben, das unter FeministInnen seit mehr als 15 Jahren umfassend diskutiert wird und ein sehr komplexes und zweideutiges Instrument darstellt. Das wäre ein Kritikpunkt an einem der weniger erfolgreichen EU Projekte. Natürlich gibt es auch geschlechtergleichstellungsrelevante Themen, die von der EU nicht angesprochen werden.

C.A.: Welche meinen Sie damit?

H.M.D.: Ich denke an Probleme, die mit der Altenpflege und Gender zu tun haben; an das zunehmend um sich greifende Phänomen, dass europäische Wohlfahrtsstaaten heute versuchen, die sogenannte “Altenlast” durch Bereitstellung von Geldern für Pflegemaßnahmen zu stemmen. Hierbei wird den Alten und ihren Familien ein gewisses Geld gezahlt, damit diese Migranten oder andere Menschen einstellen, die sich dann um die alten Menschen kümmern. Was wir beobachten, ist eine steigende Zahl von Zuwanderern innerhalb der EU, die diese Pflegeaufgaben übernehmen. Obgleich die EU über einen freien Markt verfügt, leidet sie nach wie vor unter der Unvereinbarkeit von Markt und sozialen Rechten. Es gibt einen gewaltigen Widerspruch zwischen den Idealen des freien Arbeitsmarktes und den sozialen Rechten, was umfangreiche Auswirkungen sowohl auf dokumentierte als auch auf undokumentierte MigrantInnen im Bereich Pflege und Pflegefachkräfte hat. Es gibt diesen ganzen Problembereich Gender und Altenpflege, wobei mir scheint, als habe weder die Kommission noch der Rat die Brisanz dieses Themas erkannt.

C.A.: Kommen wir zu Ihren eigenen Forschungsaktivitäten: Sie beschäftigen sich mit Pflegepolitiken, welchen Ansatz verfolgen Sie?

H.M.D.: Ich schaue mir an, wie die Länder versuchen, Pflege zu regeln, also zu regulieren. Ich bin Politikwissenschaftlerin und Soziologin und konzentriere mich vorwiegend auf den nordischen Wohlfahrtsstaat und wie die entsprechenden Länder das Thema Pflege handhaben und regeln. Ausgangspunkt meiner Herangehensweise ist die Frage, wie der Staat mit dieser Frage aus Geschlechterperspektive umgeht. Verändert der Staat die Geschlechterrollen, tut er etwas Gutes für Frauen? Ich bin dem nordischen Wohlfahrtsstaat gegenüber eher kritisch eingestellt. Einerseits haben die nordischen Länder Gutes für Frauen geleistet bei der Vereinbarkeit von bezahlter Arbeit und Pflege. Sie haben ausgiebige soziale Dienstleistungen für Kinder, alte und kranke Menschen geschaffen. Andererseits gibt es aber das Problem, dass die Vergeschlechtlichung der Pflege fast unverändert reproduziert wurde.

C.A.: Was meinen Sie damit?

H.M.D.: Aus kritischer, feministischer Perspektive lassen sich einerseits die positiven Effekte des nordischen Wohlfahrtsstaates hervorheben; andererseits hat sich die Pflegelast nicht verschoben. Eine solche Verschiebung der Pflegelast hätten wir von einer staatlichen, feministischen Perspektive erwartet. Es sind aber nach wie vor nur 5-8% der Männer, die bezahlte Pflegearbeit übernehmen. Obgleich die Wohlfahrtsstaaten versuchen, das Problem der Pflege im privaten und staatlichen Sektor zu adressieren, werden nur bestimmte Dinge zur Sprache gebracht, andere bleiben unsichtbar.

C.A.: Könnten Sie das bitte näher erläutern?

H.M.D.: Wenn man versucht, Pflege zu regeln, steht einem nur die Sprache zur Verfügung, weshalb  man letztendlich lediglich die praktischen Pflegeaufgaben, wie Kochen, Saubermachen oder das Waschen älterer Menschen beschreibt. Es gibt aber zudem zahlreiche unsichtbare Aspekte, die schwierig in Worte zu fassen und dennoch wesentlich für die Pflege sind. Werden diese Aspekte ignoriert oder nicht benannt, führt das dazu, dass wichtige Gesichtspunkte der Pflege sowie die Qualifikationen von Frauen außer Acht gelassen werden. Außerdem haben wir beobachtet, dass die Neoliberalisierung zu besonderen Problemen in den nordischen Wohlfahrtsstaaten geführt hat: Hier ließe sich das Verkennen der Pfleger oder professionellen Pflegekräfte anführen, da deren Kenntnisse ignoriert werden. Wir beobachten eine Art Entprofessionalisierung, da Pflegekräfte lediglich als praktische Arbeit verrichtende Personen angesehen, ihre Kenntnisse und ihre Qualifikationen aber außer Acht gelassen werden. Pflege wird also ausschließlich als praktische Angelegenheit betrachtet und wir können einen Kampf um die Pfleger und ihre Qualifikationen beobachten.

C.A.: Ist das ausschließlich ein Problem der nordischen Länder?

H.M.D.: In gewisser Hinsicht schon; die EU als Institution schenkt diesem Problem aber auch keine Aufmerksamkeit. Die Frage, wo Pflege stattfinden und wer sie leisten sollte, wird immer öfter mit Hilfe von Zuwanderern gelöst, die in Kontinental- und Südeuropa zunehmend die häusliche Pflegearbeit in den Familien übernehmen. Wir müssen uns aber auch folgende Frage stellen: Welche Rechte haben die Pflegekräfte? Wie ist es um ihre Situation bestellt, ihre Bezahlung und ihre Bedürfnisse? Nicht nur Gewerkschaften können dieses Thema bearbeiten, sondern zeichnet auch der Staat dafür verantwortlich. Und es geht um die politische Frage der Geschlechtergleichstellung, da 95% der Pflegearbeit von Frauen und in einigen Kontexten fast ausschließlich von Migrantinnen geleistet wird. Einige Wissenschaftler sprechen sogar von “neokolonialen” Beziehungen in Europa. Wir müssen uns fragen, was Geschlechtergleichstellung 2014 in der EU bedeutet? Und warum stehen diese Themen nicht auf der politischen Agenda?

C.A.: Das Thema Altenpflege hat auch mit der demographischen Entwicklung in Europa zu tun.

H.M.D.: Die EU hat gemeinsam mit der OECD die demographische Zeitbombe auf ihre Agenda gesetzt, was beweist, dass es ein großes Bewusstsein für die Dringlichkeit demographischer Themen gibt. Nur sehr selten wird jedoch auf Geschlechterfragen Bezug genommen. Dies ist nicht nur ein Problem für die alternden und länger lebenden Frauen, sondern auch für diejenigen, die diese einmal pflegen sollen. Bisher sieht man, dass sich fast ausschließlich Frauen um die alten Menschen kümmern (bezahlt oder unbezahlt) und das ist ein Geschlechterproblem.

C.A.: Beschäftigen Sie sich im Rahmen Ihrer Forschung auch mit der Situation der Pflegekräfte?

H.M.D.: Ja, aber vorwiegend im nordischen Wohlfahrtsstaat. Es scheint, als gäbe es eine wachsende Ethnifizierung oder Wanderbewegung in größere Städte wie Stockholm, Kopenhagen und Oslo durch Pflegekräfte von außerhalb. Es ist ein vielschichtiges Bild: Einige kommen aus den neuen EU-Ländern wie Polen oder Lettland; es gibt aber auch einige, die nicht aus der EU kommen, sondern zum Beispiel von den Philippinen.

C.A: Welche Forderungen und Aufgaben sehen Sie für die nächsten Jahre? Worauf sollte sich die Politik der EU stärker konzentrieren?

H.M.D.: Eine Aufgabe wäre eine gerechtere Verteilung der Altenpflege, sowohl unbezahlt als auch bezahlt. Eine Herausforderung ist die Frage der Gerechtigkeit: Ist es gerecht, dass 95% der Altenpflegearbeit von Frauen geleistet wird? Ist das fair? Das ist eine Herausforderung. Die zweite Frage ist: Ist es fair, dass Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, um uns bei der Bewältigung des aktuellen Pflegedefizits zu helfen? Ich denke, das ist ein großes Problem, denn die Frage ist ja auch: Ist das fair und unter welchen Bedingungen ist das fair? Wir importieren Pflegekräfte auf Kosten der sozialen Beziehungen in dem Land, das diese Menschen entsendet. Hierbei beziehe ich mich insbesondere auf Polen, Rumänien und viele der neuen EU-Länder. Einige dieser Länder leiden unter diesem Export. Ist es fair, dass wir ihren Pflegekräftemarkt trockenlegen? Das sind Gerechtigkeitsfragen. Und die dritte Frage ist: Werden wir eine Pflegekrise in der Zukunft erleben?

C.A.: Was ist Ihre Meinung dazu?

H.M.D.: Es gibt einen wachsenden Druck auf die Pflege und wir haben unzureichende Pflegemittel, weil wir uns in unserer modernen Gesellschaft so sehr auf die Produktivitätsfrage konzentrieren. Ich denke, dass, wenn es uns nicht gelingt, Pflegearbeit zu professionalisieren und anzuerkennen, es nur sehr wenige Menschen geben wird, die gewillt sind, in der Altenpflege zu arbeiten. Es herrscht nach wie vor viel Stigma und Verkennung im Bereich Pflegearbeit. Das ist wirklich schlecht, denn wir sind alle Menschen und werden letztlich alle verletzlich und abhängig. Pflege zu bekommen und zu geben, ist Teil des Menschseins. Vor diesem Hintergrund denke ich, werden wir zu einer weniger menschlichen Gesellschaft, wenn wir die Altenpflege nicht als oberste Priorität ansehen. Es ist relativ wahrscheinlich, dass wir eine Pflegekrise erleben werden, denn ich bin mir nicht sicher, ob Wohlfahrtstechnologien beziehungsweise die Anstrengungen, ältere Menschen autonomer zu machen, dieses Problem in der nahen Zukunft lösen können.

C.A.: Kurz gesagt, sagen Sie, dass wir uns mehr um die Pflege kümmern müssen, da sonst eine weniger menschliche Gesellschaft vorprogrammiert ist?

H.M.D.: Sich um die Pflege zu kümmern, bedeutet auch, sich um die Pflegekräfte zu kümmern. Gute Pflege kann es nicht geben, wenn man die Pflegekräfte außer Acht lässt. Gute Pflege hängt sehr stark von der Person ab, die sie leistet bzw. von der Beziehung zwischen der Pflegekraft und der pflegebedürftigen Person. Und natürlich auch von den Ressourcen, die für die Pflege bereitgestellt werden. Das möchte ich betonen: es ist wichtig, sich um die Pflege zu kümmern und das schließt die Pflegekräfte mit ein.

C.A.: Vielen Dank für das Gespräch!