Die jüngsten Zusammenstöße zwischen Abtreibungsgegnern und Befürwortern beim Marsch für das Leben in Berlin zeigen: Reproduktive Rechte sind nach wie vor umkämpft. Das Menschenrecht auf Abtreibung ist auch ein Thema bei der feministischen Konferenz „Dare the im_possible“, zu der sich bisher über 700 Teilnehmer_innen und mehr als 60 Refernt_innen angemeldet haben. Die Konferenz wird vom 15.-18.10.2015 hier im Livestream übertragen. Barbara Unmüßig, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und auch verantwortlich für das Gunda-Werner-Institut der Stiftung, spricht im Interview über die Bedeutung von sexuellen und reproduktiven Rechten und erklärt, warum der Kampf um Selbstbestimmung weitergehen muss.
Frau Unmüßig, was sind reproduktive Rechte?
Ein ganz zentraler Begriff dabei ist die Selbstbestimmung. Wird meine sexuelle Orientierung diskriminiert oder kriminalisiert? Kann ich zum Beispiel selbst darüber bestimmen, wie viele Kinder ich haben möchte? Welchen Zugang gibt es zu Informationen für eine gesunde, sichere und erschwingliche Familienplanung? Herrschaft über den Körper ist eine historische und gegenwärtige Erfahrung von Frauen und Männern. Das individuelle Selbstbestimmungsrecht wird durch Gesetze, soziale Normen oder staatliche Bevölkerungspolitik geprägt und meist eingeschränkt. Hinzu kommt: was wird auf dem Markt an Medizin, an Reproduktions- und Biotechnologien angeboten? Wer hat Zugang dazu und wer kontrolliert sie? Wenn wir über sexuelle und reproduktive Rechte reden, müssen wir uns deshalb immer den rechtlichen, bioökonomischen und gesellschaftlichen Rahmen anschauen - und die variieren pro Land mitunter sehr.
Nun haben ja vor allem junge Menschen – die das Thema besonders betrifft – den Kampf um sexuelle und reproduktive Rechte in den 60ern und 70ern gar nicht mitbekommen. Inzwischen ist es um das Thema ruhig geworden. Wie relevant sind denn die Forderungen von damals heute noch?
So ruhig ist es gar nicht rund ums Thema. Auch bei uns hat das sogenannte Social Freezing also das Einfrieren unbefruchteter Eizellen eine kontroverse Debatte ausgelöst. In vielen Ländern des globalen Südens sind elementare sexuelle und reproduktive Rechte nicht garantiert. In Deutschland haben wir ja nach wie vor den Paragraphen 218 StGB, der Abtreibungen nach dem dritten Monat unter Strafe stellt. Es ist also mitnichten so, dass wir heute sagen können: Mein Körper gehört mir. Inzwischen haben wir auch ein großes Angebot an Reproduktionstechnologien. Mit Social Freezing oder einer Leihmutter kann ich noch mit 50 mein erstes Kind bekommen. Kinderlosigkeit ist kein Schicksal mehr. Es gibt unendlich viele Aspekte zu bedenken, wenn wir über das Selbstbestimmungsrecht reden. Gleichzeitig gibt es ein unendliches Angebot, wie man sich diese Selbstbestimmung holen kann. Das scheint ein individuelles Problem zu sein, ist aber meiner Meinung nach ein hochpolitisches und gesellschaftliches.
Sie haben den Paragraphen 218 schon angesprochen: Abtreibungen sind in vielen Ländern strafbar. Die Frauenbewegung definiert das Recht auf Abtreibung als Menschenrecht. Warum ist diese Forderung „unerhört“, wie es im Programm zu „Dare the im_possible“ heißt?
Die Debatte zum Wert des Lebens ist zu Recht mit vielen ethischen Fragen verbunden. Bedeutet der alte Slogan „Mein Körper gehört mir“ gleichzeitig, dass ich zu jeder Zeit und in jeder Phase das Recht habe, ein Kind abzutreiben? Wann beginnt das Recht des Kindes im Mutterleib? Diese Themen sind nach wie vor kontrovers und umkämpft – und deshalb „unerhört“, also ungehört und aufregend.
De facto geht es erst mal darum, Frauen mindestens bis zum dritten Monat das Recht auf Abtreibung zu ermöglichen, kosten- und diskriminierungsfrei. Es gibt immer noch viele Länder, in denen Abtreibung schwer kriminalisiert werden, wo Frauen im Gefängnis sitzen, weil sie Anspruch auf ihr Selbstbestimmungsrecht erheben. Sogenannte Abtreibungskliniken in Texas müssen zumachen, weil der Druck der Konservativen und Fundamentalist_innen zu groß wird. Das ist ein Angriff auf das, was wir erstritten haben.
Nun gibt es zumindest in der EU einen Fortschritt: Anfang des Jahres hat sich das Europäische Parlament für das Recht auf Abtreibung ausgesprochen. Ein Etappensieg?
Damit haben wir erst mal erreicht, dass sich eine einflussreiche und gesetzgebende Institution für dieses Recht ausgesprochen hat. Da es sich aber um eine ethische Frage handelt, wird dieses Recht immer umkämpft und umstritten bleiben. Es gibt gerade auch in Europa heftige Gegenströmungen, die strikte Verbote fordern und das Recht auf Abtreibung in Abrede stellen. Dazu gehören religiöse Gruppen verschiedenster Glaubensrichtungen sowie rechte bzw. rechtspopulistische Strömungen. Es ist und bleibt ein umkämpftes gesellschaftliches Thema.
Einige Referentinnen bei „Dare the im_possible“ setzen sich ja genau mit diesen Gegenströmungen auseinander. Welche Perspektiven werden sie auf der Konferenz zum Thema reproduktive Rechte einbringen?
Sexuelle und reproduktive Rechte sind immer sehr stark in einen nationalen Kontext eingebettet. Was wird verboten, was wird erlaubt, welche medizinischen Zugänge sind kostenfrei – das alles unterscheidet sich von Land zu Land. Wir fragen auf einem Panel der Konferenz: Was ist denn bei euch eigentlich das Thema? Da wird dann die niederländische Ärztin und Aktivistin Rebecca Gomperts berichten, wie Woman on Waves funktioniert, eine Non-Profit-Organisation, die Hilfe anbietet in Gegenden, wo Schwangerschaftsabbrüche verboten sind. Ulrike Busch von pro famlia Berlin stellt dar, wie ihre eigene, rechtlich erlaubte und erwünschte Arbeit von Lebensschützern bedroht wird und mit der grünen Europaabgeordneten Terry Reintke streiten wir darüber, was das von Brüssel reklamierte Recht auf Abtreibung in Europa bedeutet, wie es in einzelnen Ländern umgesetzt werden kann, welche Chancen es hat. Wir haben mit der Pekinger Aktionsplattform vor 20 Jahren einen hohen Standard erreicht, nämlich die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung zu ermöglichen und das lassen wir uns nicht wegnehmen. Im Gegenteil, wir kämpfen dafür, dass die Verabredungen der Weltfrauenkonferenz umgesetzt werden.
Das Interview führte Hannah Schwär.