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Warum ist in Tunesien Homosexualität immer noch strafbar?

Seit der Revolution von 2011 wurden in Tunesien beim Schutz der Bürgerrechte und der politischen Rechte bedeutende Fortschritte gemacht, das gilt insbesondere für die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Für LGBTIQ-Menschen gilt dies jedoch nicht.

Zerbrochene Flasche in Regenbogenfarben

Sie werden vielmehr auf unterschiedliche Art und Weise systematisch ungleich behandelt und geächtet, was nicht selten auf Grundlage repressiver Gesetze geschieht und dazu führt, dass sie tagtäglich mit Angst, Einschüchterung und Gewalt leben müssen.

Jene Menschen, die in Tunesien LGBTIQ-orientiert sind, werden häufig Opfer übergriffiger Polizeikontrollen sowie grundloser Verhaftung durch Sicherheitsorgane, und schwulenfeindliche Haßrede und Aufrufe zu homophober Gewalt finden sich in den tunesischen Medien immer wieder. Nach einer Reihe von Beschwerden, verwarnte Tunesiens Unabhängige Aufsichtsbehörde für Audiovisuelle Kommunikation im Oktober 2015 einen Fernsehsender, weil er homophobe Äußerungen verbreitet hatte. Dies war der wahrscheinlich erste Fall einer solchen Maßregelung. Da jedoch gesetzliche Sanktionen fehlen, und viele Offizielle sowie Politiker – darunter Mitglieder des tunesischen Parlaments1  – bereits durch LGBTIQ-feindliche Äußerungen aufgefallen sind, sind homophobe Äußerungen in ganz Tunesien an der Tagesordung.

In dieser Atmosphäre der Straflosigkeit kommt es, wie tunesische und internationale Medien berichten, vermehrt zu Haßverbrechen gegen Schwule. Erst im vergangenen September berichteten Journalisten über die Ermordung zweier schwuler Männer in Tunis2  beziehungsweis in Kef3. Ein Großteil der schwulenfeindlichen Gewalt findet jedoch kein Medienecho. Badr Baabou, Vorsitzender der tunesischen LGBTIQ-Vereinigung DAMJ, erklärte kürzlich: „Verbrechen, über welche die Medien nicht berichten, nehmen immer mehr zu – und sie werden brutaler.“4  Hinzu kommt, das tunesische Recht bietet den Opfern von Haßverbrechen, wozu auch LGBTIQ-feindliche Taten gehören, kaum Rechtsmittel. Zwar ist es möglich, Angriffe entsprechend von Kategorien wie „Körperverletzung“ oder „Mord“ zu verfolgen, Strafen, die sich speziell gegen Haßverbrechen richten, sieht das tunesische Strafrecht jedoch nicht vor.

Tunesiens Gesetz gegen homosexuelle Sexpraktiken

Wird von Amts wegen gegen LGBTIQ-orientierte Menschen vorgegangen, bezieht man sich in der Regel auf Paragraph 230 des tunesischen Strafgesetzbuchs, der vorsieht, dass einverständliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Menschen gleichen Geschlechts mit bis zu drei Jahren Gefängis zu bestrafen sind.5  Genauer gesagt verhält es sich dabei so, dass die französischsprachige Version des Gesetzes „Analverkehr“ unter Strafe stellt, während die arabischsprachige Version Homosexualität zwischen Männern und Frauen gleichermaßen kriminalisiert. Bei ihrer Lobbyarbeit für die Abschaffung von Paragraph 230 weisen tunesische LGBTIQ-Aktivisten häufig darauf hin, dass es sich bei diesem Gesetz um ein Vermächtnis aus der Kolonialzeit handele. Wie der tunesische Juraprofessor Sana Ben Achour darlegt, begann die Kriminalisierung von Homosexualität im Jahr 1913 mit der Verabschiedung des Strafgesetzbuches, welches die Kolonialbehörden während der Zeit des französischen Protektorats ausgearbeitet hatten. Zuvor kannte das tunesische Strafrecht, beispielsweise das Qanun Al Jinayat Wal Ahkam Al Urfya (قانون الجنايات والأحكام العرفية), welches 1860 unter den Husainiden verabschiedet wurde6,  den Straftatbestand der Homosexualität nicht.

Im Vorfeld der „Allgemeinen regelmäßigen Überprüfung“ (Universal Periodic Review, UPR) legten fünf tunesische LGBTIQ-Gruppen (Mawjoudine, Damj, Chouf, Kelmty und Shams) unterstützt von 14 inländischen und internationalen Nichtregierungsorganisationen dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen einen Bericht7  vor, in welchem minutiös dokumentiert wird, dass der Paragraph 230 im Widerspruch zu Tunesiens Verfassung aus dem Jahr 2014 steht.8  Dem Bericht zufolge verletzt Paragraph 230 wenigstens drei Grundsätze der tunesischen Verfassung, nämlich:

  • Paragraph 230 benachteiligt Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität, was dem in Artikel 21 der Verfassung festgeschriebenen Grundsatz der „Gleichheit vor dem Gesetz“ widerspricht.
  • Die Durchsetzung von Paragraph 230 führt notwendigerweise zu einer Verletzung der Privatsphäre, welche durch Artikel 24 der Verfassung geschützt ist.
  • Die Durchführung von Analuntersuchungen, durch welche der Vorwurf der Homosexualität untermauert werden soll, ist grausam, erniedrigend und unmenschlich sowie potentiell eine Form von Folter, was gegen Artikel 23 der Verfassung verstößt, welcher die Menschenwürde schützt und Folter ächtet.

Neben Paragraph 230 können sich die Behörden in Tunesien auch auf mehrere weitere strafrechtliche Bestimmungen berufen, um gegen LGBTIQ-orientierte Menschen vorzugehen, darunter auf den Paragraphen 226a („Verstöße gegen den öffentlichen Anstand“), den Paragraphen 228 („Sittlichkeitsvergehen“) sowie den Paragraphen 231 (der „das Ansprechen potentieller Kunden durch Prostituierte“ sowie Prostitution selbst unter Strafe stellt).

Tunesische LGBTIQ-Aktivisten und ihr Kampf für Freiheit, Gleichheit und Würde

Trotz zahlreicher Verleumdungskampagnen und ständiger Einschüchterungsversuche geben die LGBTIQ- und Menschenrechtsaktivisten in Tunesien nicht auf. In letzter Zeit machten sie unter anderem Lobbyarbeit im In- und Ausland, die sich an Vertreter der tunesischen Regierung ebenso richtete, wie an ausländische Diplomaten. Aktivisten wurden geschult, landesweit zum Thema geforscht, Feldstudien durchgeführt, und immer wieder arbeitete man mit tunesischen und mit internationalen Medien. Anlässlich der „Allgemeinen regelmäßigen Überprüfung“ (UPR) Tunesiens im Mai 2017 erzielten die Aktivisten einen bedeutenden symbolischen Sieg, räumte dabei ein Vertreter der tunesischen Regierung doch erstmals ein, im Lande würden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt: „Was Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung angeht ist festzuhalten, die Verfassung Tunesiens verbietet alle Formen der Diskriminierung, des Hasses und des Anstachelns von Hass. Jeder Mensch, gleich welcher sexuellen Orientierung, genießt diese Rechte voll und ganz... Angriffe, zu denen es aufgrund der sexuellen Orientierung einer Person kommt, sind strafbar und werden strafrechtlich verfolgt.“9  Zwar sagte der Regierungsvertreter nichts über die Abschaffung von Paragraph 230, sein Eingeständnis sorgte jedoch dafür, dass LGBTIQ-Gruppen nun noch entschiedener auf eine umfassende Gesetzesänderung drängen.

Allerdings ist es, trotz der Bemerkungen des Regierungsvertreters bei der UPR, sehr unwahrscheinlich, dass Paragraph 230 in absehbarer Zeit fällt. In einem Interview, welches Tunesiens Präsident Beji Caid Essebsi im Juni 2015 dem ägyptischen Fernsehen gab, verteidigte er den entsprechenden Paragraphen entschieden10  und versicherte seinem Gesprächspartner, Paragraph 230 werde nicht abgeschafft.11  Zwei Jahre später, im August 2017, kündigte Präsident Essebsi dann aber an, man werde einen Ausschuss bilden, dessen Aufgabe es sei, den Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Gleichheit der Geschlechter durchzusetzen.12  Vorsitzende dieses Ausschusses ist die bekannte tunesische Feministin und fortschrittliche Abgeordnete Bochra Bel Hadj Hamida. Der Ausschuss soll innerhalb von sechs Monaten einen umfassenden Bericht über die Lage der Persönlichkeitsrechte und der Geschlechtergleichheit in Tunesien vorlegen und gleichzeitig Vorschläge für eine Gesetzesreform entwickeln. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei Paragraph 230.

Nur wenige glauben allerdings, dass das Eingeständnis der Regierung bei der UPR sowie der neue Ausschuss für Persönlichkeitsrechte und Geschlechtergleichheit der Auftakt einer umfassenden Gesetzesreform ist, einer Reform, durch die LGBTIQ-orientierte Menschen endlich rechtlich gleichstellt würden. Aber auch kleine Siege machen der stetig wachsenden LGBTIQ-Bewegung in Tunesien Mut. Ungeachtet rechtlicher Diskriminierung und ständig drohender Gewalt, werden diese Stimmen nicht schweigen.

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.


Ausstellungstipp:

Montag, 06.11.2017 18:30 – Montag, 27.11.2017 10:00

Where love is illegal

Fotografien von Lesben, Schwulen, Queers und Transgender aus Tunesien

Bild entfernt.

Die Ausstellung wird am 06.11.2017 um 18:30 Uhr mit einer Vernissage eröffnet.

Mit:

Badr Baabou, Mitbegründer und Vorsitzender der tunesischen Organisation Damj, Tunesien

Wafa Ben Haj Omar, Programmkoordinatorin, Heinrich-Böll-Stiftung Büro Tunis, Tunesien