Videokameras werden vermehrt zum Alltag. Doch welche Gefahren intersektionaler Diskriminierung bieten sie für ethnische und religiöse Minderheiten, LGBTQ-Menschen, Immigrant*innen, Geflüchtete und Frauen*?
Wir schreiben das Jahr 2018 – und dennoch müssen die meisten queeren Menschen sich immer noch verstecken. Nur allzu gut wissen sie, dass sie keine Kriminellen sein müssen, um auf den Schutz der Dunkelheit angewiesen zu sein – genau wie Geflüchtete, Migrant*innen, Schwarze Menschen, People of Color, mit Hidschab oder Turban.
Und auch wenn Frauen* es in vielen Ländern heutzutage nicht mehr verheimlichen müssen, wenn sie das Haus ohne Begleitung verlassen oder sich mit einem Mann treffen, mit dem sie nicht verheiratet sind, möchten sie vielleicht trotzdem nicht gleich an die große Glocke hängen, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen. Vielleicht möchten sie der Wut ihres Ex-Mannes entgehen können. Und dabei wird ihnen vielleicht wieder einmal bewusst, dass es gute Gründe dafür gibt, auf die eigene Privatsphäre zu bestehen – auch wenn sie nichts Unrechtes getan haben.
Leider sind Großstädte rund um den Globus voller Kameras, sie hängen an jeder Straßenkreuzung, an jedem Gebäude, in Bussen und Bahnen. Häufig wird diese Technik unter dem Deckmantel wertfrei erscheinender Begriffe wie der „öffentlichen Sicherheit“ oder der „intelligenten Stadt“ präsentiert. Doch Regierungen, ängstliche Anwohner*innen und Kameraherstellende vergessen über diese unisono angestimmten Lobgesänge auf die technischen Möglichkeiten, welche Gefahren intersektionaler Diskriminierung sie für ethnische und religiöse Minderheiten, LGBTQ-Menschen, Immigrant*innen, Geflüchtete und Frauen* bedeuten. Dabei könnten Städte und Kommunen über Verordnungen, Sicherheitsverfahren und manchmal auch einfach mit etwas weniger Ängstlichkeit die Überwachungspraxis ändern, selbst wenn sie nicht gleich die Regierung zum Umdenken bewegen können. Es ist wichtig, dass insbesondere Frauen* diesen Kampf ernst nehmen.
Was ist Videoüberwachung?
Videoüberwachung ist so allgegenwärtig wie nie zuvor: vernetzt, hochauflösend und oft von einem großen zentralen Kontrollraum aus gesteuert, in dem noch unzählige weitere Daten zusammenlaufen. Eine Reihe weiterer Informationstechnologien können mit ihr verbunden werden, wie etwa:
- Lesegeräte zur automatischen Erfassung von Autokennzeichen, die mehrere tausend Autokennzeichen pro Minute automatisch erfassen und an Datenbanken übertragen können
- Gesichtserkennungstechnik, darunter mobile Gesichtserkennung mithilfe von Sonnenbrillen
- weitere biometrische Verfahren wie z.B. Gang-Erkennung, Tattoo-Erkennung
- Fahrbahnsensoren
- Verfolgung von Mobiltelefonen mittels Bluetooth, offener WiFi-Netzwerke und simulierter Funkzellen („IMSI-Catcher“)
- Überwachung in den sozialen Medien
- Analyse von Posts in sozialen Medien durch Algorithmen und künstliche Intelligenz
Der kombinierte Einsatz dieser Technologien ermöglicht Staaten und einigen Unternehmen der Privatwirtschaft, Menschen umfassend zu verfolgen. In London sind nach Schätzungen von Expert*innen beispielsweise über 500.000 Kameras installiert, die ihre Bilder von verteilten Standpunkten in Wohnvierteln und im U-Bahnnetz aus an zentrale Kontrollräume liefern. Die Londoner Polizei setzt seit den Olympischen Spielen 2012 Lesegeräte zur automatischen Erfassung von Autokennzeichen und Software für die Überwachung in den sozialen Medien ein, zudem wird die Bewegung von Mobiltelefonen verfolgt. Darüber hinaus weitete die Behörde vor kurzem einen Test von Gesichtserkennungssystemen auf das gesamte Stadtgebiet aus – trotz einer schwindelerregenden Fehlerquote von 98%.
Eines der verstörendsten Beispiele im Rennen um die totale Überwachung ist das in China eingeführte System der „social credits“ (etwa: soziale Bonuspunkte): Die Regierung nutzt ihren ohnehin schon gigantischen Überwachungsapparat, um einzuschätzen, ob die Menschen sich die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verdient haben. Die Videoüberwachung ist integraler Bestandteil dieses Systems. Sie liefert nicht zur Informationen zu gesetzwidrigen oder gesellschaftlich als anstößig geltenden, regimekritischen Handlungen, sondern dokumentiert auch Alltagsentscheidungen, wie etwa den Kauf eines Fertiggerichts, anstatt frischer Gemüsesorten im Supermarkt. Die ersten Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten: „In den letzten Monaten hat der chinesische Staat Millionen Menschen den Kauf von Tickets für Flüge und Schnellzüge vorenthalten.“
Man stelle sich dieses Ausmaß an Überwachung nun für eine konstant marginalisierte Gruppe vor. Des Weiteren stelle man sich diese Macht in den Händen verblendeter Nationalist*innen und Rassist*innen vor, deren Macht und Einfluss aktuell überall auf der Welt zunimmt, wie etwa in Brasilien, den USA, Italien und selbst in Deutschland.
Die Macht der Videoüberwachung: eine radikale Analyse aus dem Blickwinkel der Intersektionalität
Debatten zur Intersektionalität der Überwachung bzw. Projekte zur Auswirkung der Überwachungspraxis auf marginalisierte Gruppen gehören bislang nicht zum Mainstream – vielleicht, weil so viele Autor*innen, die zum Thema Überwachung publizieren, selbst nicht von Diskriminierung betroffen sind. Bislang sind es genau die weißen Cis-Männer aus angelsächsischen und westeuropäischen Ländern – also eine der global am wenigsten marginalisierten Gruppen –, die sich federführend zum Thema äußern.
Ob Überwachung unterschiedliche Gruppen unterschiedlich betrifft und ob sie die Privilegien und die Macht der Gesellschaft widerspiegelt, die ein solches System einführt, sollte eigentlich gar keine Frage sein. In den USA gibt es zuhauf Beispiele von diskriminierender Überwachung, von der massenhaften gezielten Überwachung arabischer und muslimischer Gemeinschaften durch die New Yorker Polizei, bis hin zur Fixierung des FBIs auf die Bürger*innenrechtsbewegung, insbesondere auf die Black Panthers, im Rahmen des berüchtigten COINTELPRO-Programms der 60er und 70er Jahre. 2017 enthüllte die Zeitschrift Foreign Policy die Einführung des Begriffs „Black Identity Extremist“ durch das FBI. Wie Malkia Cyril es formulierte, „erfand [das FBI] ein ganz neues Etikett und eine ganz neue Bedrohung“, die es gegen die Bewegung Black Lives Matter verwenden konnte. Diese ist nur eine von zahlreichen Enthüllungen, die belegen, dass und wie die Strafverfolgungsbehörden Aktivist*innen von Black Lives Matter überwachten – und diese Enthüllung wird sicherlich nicht die letzte gewesen sein.
Doch dieses Wissen allein reicht nicht aus. Prof. Kimberlé Crenshaw prägte den Begriff der Intersektionalität, um zu beschreiben, wie verschiedene Machtsysteme sich überschneiden und dabei bestimmte Gruppen benachteiligen. In diesem Zusammenhang zeigt sie auf, dass die bestehenden Theorien zu Antidiskriminierung und Feminismus die spezifischen Erfahrungen schwarzer Frauen* zum Beispiel überhaupt nicht erfassen. Eine schwarze Frau zu sein, lässt sich nicht einfach auf die Formel „schwarz + Frau*“ reduzieren. Crenshaw führt aus: „Manchmal werden diese Frauen eben auch als schwarze Frauen diskriminiert – nicht nur in der Summe der Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Abstammung und des Geschlechts, sondern als schwarze Frauen.“ Die Achsen der Diskriminierung und der Frauenfeindlichkeit wirken sich unabhängig voneinander auf weitere Bereiche aus.
Diese intersektionalen Effekte sollten nicht schwer zu erkennen sein. Doch es gibt durchaus Möglichkeiten, sich der Überwachung entgegenzustellen und die Bedrohungen zu erkennen: zum Beispiel durch Sicherheitstrainings. Diese Schulungen arbeiten häufig mit dem Konzept der Risikoanalyse oder mit Bedrohungsmodellen. Mithilfe dieser Techniken werden spezifische Gegner*innen und Bedrohungen einer Person oder Gruppe analysiert. Anschließend können sie mit dem Ziel eingegrenzt werden, bessere Entscheidungen zu Sicherheitsinstrumenten oder -taktiken treffen zu können. Bei einer ehrlichen Bestandsaufnahme können solche Ansätze Diskriminierung und entsprechende Intersektionen offenlegen.
Fallstudien: Sozialhilfeempfangende und TransFrauen* auf der Straße
Dies zeigt sich am Beispiel der Überwachung von Sozialhilfeempfangenden in den USA. Die US-amerikanische Debatte zum Thema Überwachung konzentriert sich bislang darauf, wie sich die „Massenüberwachung“ auf „Durchschnittsamerikaner*innen“ (d.h. weiße Amerikanerinnen und Amerikaner aus der Mittelschicht) auswirkt. Nathalie Maréchal zeigt, dass Sozialhilfeempfangende von dieser Debatte ausgeschlossen werden, obwohl sie seit Jahrzehnten einer umfangreichen Überwachung unterliegen. Die Autorin merkt an, dass „sich das öffentliche Bild des typischen Sozialhilfeempfängers mit dem Kampf schwarzer Amerikaner*innen um Zugang zu staatlichen Transferleistungen änderte – von der rechtschaffenen weißen Witwe, die ihre Kinder heldenhaft allein großzieht, hin zur faulen, promiskuitiven, nicht der Norm entsprechenden (und vollständig erfundenen) schwarzen ‚Sozialhilfe-Königin‘“, die von Ronald Reagan zum Mythos stilisiert wurde. Durch diese Wahrnehmung wurde der Weg für die massenhafte Überwachung des Verhaltens und der Körper der Menschen geebnet. Sozialhilfeempfangende haben Rechenschaft darüber abzulegen, wie sie ihre Tage verbringen. Wenn sie Lebensmittelgutscheine erhalten, werden ihre Einkäufe mithilfe von Big Data ausgewertet und analysiert. Alleinerziehende Mütter können dazu verpflichtet werden, „den biologischen Vater ihrer Kinder zu nennen“, Ämter können „verlangen, dass unverheiratete Minderjährige bei einem Elternteil oder Vormund leben“. Die Bundesstaaten haben zudem „den Ermessensspielraum, unverheirateten minderjährigen Müttern Leistungen zu verweigern“.
Diese Art der Überwachung der Körper und des Verhaltens findet keinesfalls nur in den Vereinigten Staaten statt. In Deutschland etwa stehen alleinerziehenden Müttern zusätzliche finanzielle Hilfen zu. Diese wurden jedoch in der Vergangenheit einigen Frauen* verweigert, die den Vater ihrer Kinder wegen eines One-Night-Stands nicht angeben konnten. Hilfsempfangende beim Jobcenter erfahren eine allgemeine Überwachung, die sich unter anderem in Hausbesuchen äußert, aber auch geschlechtsspezifisch und rassistisch sein kann. So wurden Hausbesuche mit der Sorge begründet, dass „es Bürger gibt, die hier einen Antrag auf Sozialhilfe stellen und dann in die Türkei fliegen und dort ganz normal arbeiten“. Und vor einigen Jahren machte ein Fragebogen des Jobcenters Stade die Runde, in dem einer Frau* detaillierte Fragen zu ihrem Sexualleben gestellt wurden. Als die Frau* sich weigerte, die Fragen zu beantworten, wurde ihr die Unterstützung gestrichen. Der Fragebogen wurde zwar zurückgezogen, aber die Anwält*innen der Frau* fragten zu Recht: War das wirklich ein Einzelfall?
Stellen wir uns nun vor, wie sich all das im Zusammenhang mit der Videoüberwachung im öffentlichen Raum darstellt. In den USA haben etwa 20% der Transmenschen keine feste Bleibe oder sind obdachlos, was zunächst einmal bedeutet, dass diese Personen überproportional häufig von Videokameras im öffentlichen Raum erfasst werden. Dazu führt die Aktivistin Tamika Spellman aus: „Viele Sexarbeitende, die sich prostituieren, um überleben zu können, sind TransFrauen* of Color, denen aufgrund von Diskriminierung der Zugang zu Arbeit, Wohnraum und anderen Ressourcen verwehrt wird.“ Sexarbeit spielt eine wichtige Rolle für das Überleben queerer Communities, aber unabhängig davon, ob dies überhaupt auf den einzelnen Menschen zutrifft, grundsätzlich „mit Sexarbeit, der Erregung öffentlichen Ärgernisses oder anderen Sittlichkeitsdelikten in Verbindung gebracht zu werden“, kann unheimlich gefährlich sein. Dazu Spellman: „Im Visier der Polizei zu stehen, bedeutet häufig, aufgrund von Handlungen kriminalisiert zu werden, die weder gesetzwidrig noch falsch sind.“ Es bedeutet den Einsatz „regulär angewandter Polizeitaktiken [wie den Besitz von Kondomen als Beweis für Prostitution anzuführen], die LGBT-Menschen übersexualisieren und Schuld oder Unehrlichkeit aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität unterstellen“. Es bedeutet Belästigung durch die Polizei, manchmal auf der Grundlage der Daten aus der öffentlichen Videoüberwachung. Und für schwarze oder indigene TransFrauen* sind solche Begegnungen mit der Polizei ganz besonders gefährlich: Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei erschossen zu werden, ist für Schwarze oder Native Americans dreimal so hoch wie für Weiße. Diese Situationen beginnen häufig mit einem scheinbar harmlosen Kontakt mit der Polizei. Auch sexualisierte Gewalt durch Polizeibeamte stellt eine Gefahr dar. Die in Washington, DC ansässige NGO DECRIMNOW informiert: „Sexualisierte Gewalt ist nach übermäßiger Gewalt gegen Zivilpersonen die am zweithäufigsten vorkommende Form polizeilichen Fehlverhaltens“ und stellt somit einen weiteren Grund dafür dar, dass „[für] Transmenschen, die Sexarbeit ausüben [oder denen dies unterstellt wird], die Polizei häufig eine Bedrohung – und keinen Schutz –ihrer Sicherheit darstellt“.
Wir sind keine fügsamen Körper
Der Philosoph Michel Foucault war sicher kein Feminist. Vielmehr war er höchstwahrscheinlich ein Frauen*feind. Nichtsdestotrotz ist sein Werk weiterhin relevant und wird von unzähligen feministischen Wissenschaftler*innen rezipiert, am eindrücklichsten vielleicht von Judith Butler. In seinem Werk Überwachen und Strafen spricht Foucault über die unzähligen Weisen, in denen Macht die menschliche Existenz prägt und die Menschen dabei in „fügsame Körper“ verwandelt, die verinnerlicht haben, was die moderne Gesellschaft von ihnen erwartet.
Hat die Überwachung uns in fügsame Körper verwandelt? Nicht ganz. Vielleicht ist das der Grund, warum Transmenschen so oft die Abweichung der Gesellschaft von der Norm verkörpern – weil wir uns weigern, unsere Erscheinung und unser Verhalten an die Erwartungen der Gesellschaft anzupassen, selbst wenn wir wissen, dass wir von Kameras beobachtet werden. Aber genau darauf zielt die allgegenwärtige Überwachung unter anderem ab: auf Selbstzensur und Angst.
Und jetzt? Die Macht in die eigenen Hände nehmen
Zunächst das Wichtigste: Nicht die Videoüberwachung auf sich selbst projizieren! Zu wissen, was uns draußen erwartet, bedeutet nicht, das Haus nicht mehr zu verlassen. Es ist allerdings sinnvoll, sich gut zu informieren. Überall auf der Welt gibt es Gruppen, die die im öffentlichen Raum installierten Kameras und andere Überwachungstechnologien für ihre Region erfasst und kartiert haben – siehe zum Beispiel den Leitfaden zur Überwachung in Chicago des Projekts Lucy Parsons, das Projekt zur Abbildung von Kameras von ICU Oakland und das Projekt „Surveillance under Surveillance“.
Obwohl es gegen die meisten Überwachungstechnologien im öffentlichen Raum nur wenige wirksame Instrumente gibt, erscheint es dennoch hilfreich, sich einen allgemeinen Überblick über Sicherheitsverfahren zu verschaffen, zum Beispiel mit diesem Leitfaden zu Sicherheitsleitfäden. Auch das hervorragende Angebot auf GenderIT mit fundierten Artikeln und Links zu Tools ist einen Besuch wert. Zudem ist wichtig zu bedenken, dass die Videoüberwachung möglicherweise mit weiteren Informationsquellen interagiert, über die wir deutlich mehr Kontrolle haben. Hier gilt es, die Kontrolle über die eigenen Informationen in den eigenen Händen zu behalten.
Schließlich müssen die Communities, wo immer möglich, gegen diese Art der Überwachung kämpfen, noch bevor sie stattfindet. Es gibt bereits eine Reihe ermutigender Beispiele hierfür in den USA, am eindrücklichsten vielleicht im kalifornischen Oakland. Sobald die Planung zur Installation zusätzlicher Überwachungskameras oder ähnlicher Technik bekannt wird, sollten wir Informationen zur geplanten technischen Ausstattung des Systems sammeln, ggf. mit Hilfe der Zivilgesellschaft. Dabei sollten wir auf die Fehlerquoten der Gesichtserkennungstechnik sowie auf die Zahlen hinweisen, die belegen, dass Videokameras nur in sehr geringem Umfang dazu geeignet sind, die Sicherheit zu verbessern. Wir sollten die rechtlichen Beschränkungen anderer Städte oder auch Länder für den Einsatz von Kameraüberwachungssystemen übernehmen, um den unbegrenzten Zugang zu diesen Technologien zu stoppen.
Und nicht vergessen: Wir sind keine fügsamen Körper.