Einführung
Wenn heute im alltäglichen Leben über Ökonomie gesprochen oder in der Zeitung geschrieben wird, so geht es vor allem um Märkte, um Preise, um Wettbewerb. So spiegelt sich im Alltag wider, was durch wirtschaftstheoretische Modelle und wirtschaftliche Praxis über mehr als 200 Jahre herausgebildet und gesellschaftlich gestaltet wurde: Ökonomie verstanden als Marktökonomie, losgelöst von sozialen und ökologischen Zusammenhängen, autonom. Aber moderne Ökonomie ist mehr, ist – so lautet meine These - von vornherein eine Zwillingsgeburt, die Geburt zweieiiger, zweigeschlechtlicher Zwillinge: der männlich geprägten Marktökonomie und der weiblichen (1) Versorgungs- oder Care-Ökonomie. In den wirtschaftstheoretischen Blick ist jedoch nur der eine Teil geraten – die Marktökonomie, als Einzelkind. Der andere Teil wurde lange Zeit nicht gesehen. Das beschädigt nicht nur den unsichtbaren Teil, sondern macht auch die Funktionsweise des sichtbaren Bereichs teilweise unerklärlich. So werden z.B. moderne Krisenphänomene wie Klimakrise oder globale Armutskrise häufig falsch verstanden – als Unglücksfälle, als Ausdruck von Fehlern, und nicht als das, was sie sind: als systemische Krisen. „Der „blinde Fleck“ ist das Ganze“ (2) hat Sabine Hofmeister das Problem beschrieben. Ja – und nur, wenn dieses „Ganze der Ökonomie“, wenn das ganze Zwillingspaar in den Blick genommen wird, lassen sich auch die Teile verstehen, kritisch analysieren und gemeinsam zukunftsfähig umgestalten.
Ökonomie als autonome Marktökonomie – und die Folgen dieses engen Ökonomiekonzepts
In der wirtschaftlichen Sphäre des Marktes handeln, so die gängige Theorie, die Menschen als Nutzen- und Gewinnmaximierer, geleitet nur durch ihre individuellen Vorlieben, ausgestattet mit Geld zum Kaufen und mit Informationen über Waren und Preise. Sie sind „homines oeconomici“, ökonomische Menschen, die sich ohne sozialen Zusammenhalt nur in Konkurrenz zu anderen verhalten können. Typische ökonomische Situationen werden daher als Tauschsituationen verstanden, als Tausch zwischen gleichberechtigten Warenbesitzern, als symmetrische Beziehungen. Ihr einziges Maß sind die eigenen Bedürfnisse (die kein Maß sind, da sie als nie befriedigt gelten) bzw. Gewinnerwartungen (die erst recht kein Maß abgeben, da sie sich in möglichst viel Geld ausdrücken); ihre einzige Sorge gilt sich selbst. Diese Figur des sozial ungebundenen „einsamen Wolfs“ ist stark männlich geprägt.
Maßlosigkeit und Sorglosigkeit – so lässt sich die Rationalität dieses Wirtschaftssystems kennzeichnen. Zugespitzt erleben wir das gegenwärtig auf den Finanzmärkten, wo immer neue Spekulationswellen und dubiose Finanzprodukte den Einen eine Unmenge Geldes in die Kassen spülen, während die Anderen die so verursachten Krisen ausbaden müssen.
Zu diesen Anderen gehört der Teil der Ökonomie, der in der auf die Märkte fixierten ökonomischen Theorie und Praxis nicht vorkommt – die Care-Ökonomie, der lebensweltlich eingebettete Bereich der sorgenden Tätigkeiten. Wird die Marktökonomie, insbesondere in ihren guten Positionen, noch immer von Männern dominiert, so ist dieser Bereich der Ökonomie bis heute vor allem weiblich, sozial den Frauen zugeordnet. Wird durch die (Erwerbs-)Arbeit für den Markt produziert und Wert geschaffen, so gilt die Care-Arbeit als un-, bestenfalls als „reproduktiv“, ihr Ergebnis geht nicht in die ökonomische Wertrechnung ein. Aber – und das ist entscheidend für die Rolle des Care-Bereichs im Gesamtkonzept des Wirtschaftens und für das, was er aushalten muss – obwohl sie nicht bewertet werden, werden die Sorgeleistungen für die alltäglichen marktökonomischen Prozesse gebraucht: Gebraucht für die tägliche Wiederherstellung der Arbeitskraft für den Markt, gebraucht als sozialer Raum für das Aufwachsen von Kindern, gebraucht als Krisenpuffer, der die am Markt überflüssigen Arbeitskräfte, die Arbeitslosen, aufnimmt und gebraucht, um die alten Menschen nach der Phase der Erwerbsarbeit zu umsorgen.
Zugespitzt lässt sich formulieren: Die Care-Ökonomie wird nicht bewertet, aber für die Verwertung, für das Geldverdienen am Markt, gebraucht. Und das gilt auch für den zweiten Bereich des sog. Reproduktiven – die ökologische Natur. Auch auf ihren produktiven Leistungen basiert das Wirtschaften für den Markt, aber auch sie gehen nicht in die ökonomische Wertrechnung ein. Auch sie sind nur dazu da, dem Markt „zu dienen“.
Dass das so ist, liegt an der spezifischen Trennungsstruktur des Ökonomischen, wie sie im zu engen Bild der Marktökonomie aufscheint – der Trennung zwischen dem Produktiven und dem sog. Reproduktiven. Als Nicht-Ökonomie abgetrennt und ausgegrenzt werden die Basisproduktivitäten menschlichen Wirtschaftens – die weiblichen sorgenden Tätigkeiten (Care) sowie die Produktivität der ökologischen Natur. Diese Trennung wirkt auf das Abgetrennte zerstörerisch. Eben weil es nicht in die Wirtschaftsrechnungen eingeht, weil es nicht bewertet wird, wird es maßlos und sorglos ausgenutzt. Hier liegt die gemeinsame Ursache der heutigen sozialen und ökologischen Krisen. Sie sind alle Ausdruck ein- und derselben Krise – der Krise des „Reproduktiven“. Der Reichtum, das Wachstum, die gesellschaftliche Wohlfahrt, die mit dieser Wirtschaftsweise erzielt werden, basieren auf der Zerstörung der lebendigen Grundlagen – der Produktivitäten von Care-Ökonomie und ökologischer Natur. Diese Art des Wirtschaftens bringt systematisch nicht-nachhaltige, nicht zukunftsfähige Ergebnisse hervor.
Ökonomie als Zwillingspaar – Care-Ökonomie als zentraler Bereich des Ökonomischen
Um dem entgegenzuwirken, um die Ökonomie so zu verändern, dass sie zukunftsfähig wird – dass sie also im heutigen ökonomischen Wirken die eigenen Grundlagen nicht zerstört, sondern erhält - muss zunächst anders auf die Ökonomie geblickt werden, wie es z. B. im Konzept „Vorsorgendes Wirtschaften“ geschieht (3). Dieses Konzept betrachtet die Ökonomie aus einem veränderten Blickwinkel: Von den bisher als reproduktiv bezeichneten Bereichen, den weiblichen sorgenden Tätigkeiten und der ökologischen Natur, wird auf die Marktökonomie geblickt. Diese ist jetzt nicht mehr Selbstzweck, dem ökologisches und soziales Leben zu dienen haben, sondern das Verhältnis wird umgekehrt – Märkte sind jetzt Mittel für Lebenszwecke, aus (spekulierenden) Herren werden (vorsorgende) Diener. Welche Märkte (auch: welche Finanzmärkte) tun den Menschen und der Natur gut? Diese Frage kann jetzt gestellt und bearbeitet werden. Das „Reproduktive“, das bisher durch Wirtschaften zerstört wurde, gilt es jetzt, bewusst so zu gestalten, dass es erhalten bleibt.
Durch diesen Perspektivenwechsel kommt „das Ganze der Ökonomie“ in den Blick – neben der Marktökonomie taucht jetzt die Care-Ökonomie als essentieller Teil des Ökonomischen auf. Deutlich wird: Bisher wurde die Geburt der modernen Ökonomie als Ein-Kind-Geburt betrachtet – es ist aber eine Zwillingsgeburt! Der bisher als Einzelkind betrachtete Markt steht jetzt da als männlicher Zwilling, dem vom ersten Lebenstag an ein weiblicher Zwilling zur Seite steht. Damit wird auch die geschlechtshierarchische Strukturierung der ganzen Ökonomie deutlich, die oben schon angesprochen wurde. Männer managen oben, Frauen sorgen unten – diese Struktur kann erkannt, dekonstruiert und geschlechtergerecht und sozial und ökologisch verantwortlich neu geordnet werden.
Diese Neuordnung, diese notwendige „Neuerfindung des Ökonomischen“ (4), beginnt mit dem Studium der neu entdeckten Zwillingsschwester – der Care-Ökonomie. Denn den Zwillingsbruder kennen wir schon zur Genüge, die für ihn geltenden Handlungsprinzipien und Rationalitäten haben ja in die sozial-ökologische Krise geführt. Die Hoffnung besteht darin, in der Care-Ökonomie andere Prinzipien zu finden, die dann als Handlungsprinzipien für die ganze Ökonomie weiterentwickelt werden können.
Und wir werden fündig! Mithilfe des Konzepts „Vorsorgendes Wirtschaften“ lassen sich drei zentrale Handlungsprinzipien der Care-Ökonomie ausmachen (5):
- Vorsorge: Menschen leben in sozialen Beziehungen, sie sorgen für sich und andere und sind auf die Fürsorge anderer angewiesen. In dieses Sorgen sind die natürliche Mitwelt und zukünftige Generationen eingeschlossen. Vorsicht, Voraussicht, Umsicht, Übersicht und Rücksicht sind Charakteristika dieses Prinzips. Aus dem Sorgen um die Zukunft entsteht die Vorsorge in der Gegenwart. Sorgen nimmt die Bedürfnisse aller Beteiligten zum Ausgangspunkt, es ist ein Prinzip, das auch asymmetrische Beziehungen in die Ökonomie integriert (6).
- Kooperation: Kooperieren wird hier im Sinne einer vorsorgend-verantwortlichen Kooperation verstanden. Gemeint ist damit ein kooperatives Wirtschaften, in dem im gemeinsamen Verständigungsprozess nach lebensfreundlichen und naturverträglichen wirtschaftlichen Prozessen und Produkten gesucht wird. Weil in diesem Verständigungsprozess als sprachlose KooperationspartnerInnen die natürliche Mitwelt und zukünftige Generationen einbezogen sind, kommt der Begriff „Verantwortung“ mit herein.
- Orientierung am für das gute Leben Notwendigen: Vorsorgendes Wirtschaften orientiert sich an der Gestaltung eines guten Lebens für alle Beteiligten. Was dieses gute Leben ist, muss im gemeinsamen Diskurs immer wieder neu festgestellt werden. Gesellschaftliche Wohlfahrt ist so nicht allein monetär bestimmt, ist nicht ein-dimensional kalkulierbar, sondern kann nur viel-dimensional und vielfältig entwickelt werden.
Vorsorgendes Wirtschaften ist „haushälterisches Wirtschaften“. Während auf Basis des herkömmlichen Ökonomiebildes die Menschen aufgefordert werden, ihre eigenen „Arbeitskraftunternehmer“ zu werden, sind sie hier eher „LebenskrafthaushälterInnen“. Deren Rationalität lautet: Erhalte die produktiven lebendigen Grundlagen des Wirtschaftens, indem Du heute Dein Leben gestaltest – erhalte gerade das, was bisher als „reproduktiv“ abgespalten war. Mehr noch: Sorge dafür, dass dieses ehemals Reproduktive so gestaltet wird, dass es dauerhaft lebensfähig ist. Das ist vernünftig. Diese Vernunft basiert gleichermaßen auf Denken und Fühlen. Sie entspricht der „Fürsorgerationalität“ im skandinavischen Care-Diskurs und ist mit einer „Ethik der Fürsorglichkeit“ unterlegt.
Ausblick
Die Anerkennung des Zwillingscharakters der Ökonomie mithilfe der Entdeckung des weiblichen Zwillings ist erst der Anfang eines Weges, der den Transformationsprozess von der heutigen, zerstörerischen Ökonomie hin zu einer zukunftsfähigen, die Lebensgrundlagen erhaltenden Ökonomie führt. Ein zentraler Schritt ist die Aufwertung der Care-Ökonomie. Weitere Schritte bestehen in der Transformation der Marktökonomie mithilfe der Handlungsprinzipien und der Rationalität des weiblichen Zwillings in eine ökonomische Sphäre, die sich nicht nur mit den Lebensprozessen von Natur und Gesellschaft verträgt, sondern deren Erhalt dient. Ökonomie als Mittel für Lebenszwecke – ja. Ute Gerhard beschreibt die Transformationsaufgabe so: „Im Grunde geht es also nicht um einen Nachholbedarf oder die Anpassungsleistungen von Frauen an die Erfordernisse des Marktes, sondern die Einübung in eine soziale Praxis der Anteilnahme, anders gesagt, um die Zivilisierung auch des männlichen Ichs.“ (7) Übertragen auf den hier eingeforderten Transformationsprozess des Ökonomischen heißt das: Es geht um die Zivilisierung des männlichen Zwillings der Ökonomie – mithilfe der Stärkung und der Entwicklung des weiblichen Zwillings.
(1) Ich spreche hier von „weiblich“ und „männlich“ in der Bedeutung von Gender. Der Schwerpunkt meiner Argumentation liegt mithin auf dem sozialen Geschlecht, wenn auch soziale Geschlechtlichkeit (gender) nicht unabhängig von biologischer Geschlechterzugehörigkeit (sex) gedacht werden kann.
(2) Hofmeister, Sabine 1995: Der „blinde Fleck“ ist das Ganze. Anmerkungen zur Bedeutung der Reproduktion in der Ökonomie. In: Grenzdörffer, Klaus et al. (Hg.): Neue Bewertungen in der Ökonomie. Pfaffenweiler: Centaurus, S. 51-65.
(3) Vgl. die website des gleichnamigen Netzwerks www.vorsorgendeswirtschaften.de
(4) Vgl. Biesecker, Adelheid/ Hofmeister, Sabine 2006: Die Neuerfindung des Ökonomischen. Ein (re)produktionstheoretischer Beitrag zur Sozial-ökologischen Forschung. Ergebnisse Sozial-ökologischer Forschung Bd.2. München: oekom.
(5) Vgl. Biesecker, Adelheid et al. 2000: Vorsorgendes Wirtschaften. Auf dem Weg zu einer Ökonomie des guten Lebens. Bielefeld: Kleine, 49ff.
(6) Vgl. Jochimsen, Maren 2003: Careful Economics. Integrating caring activities and economic science. Boston, Dordrecht, London: Kluwer Academic Publishers.
(7) Gerhard, Ute 2008: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Care. In: Senghaas-Knobloch, Eva/ Kumbruck, Christel (Hg.): Vom Liebesdienst zur liebevollen Pflege. Rehburg-Loccum, 13-30, 26.