Was haben ein Wanderarbeiter in Griechenland und ein Homosexueller in Litauen heutzutage gemeinsam? Was haben eine verschleierte Frau in Belgien und eine Aktivistin für Reproduktivrechte in Spanien gemeinsam? Was haben alle vier gemeinsam? Die Antwort lautet: Vieles.
Denn alle geraten ins Kreuzfeuer politischer Schlachten zwischen Politikern, die Ängste, Frust und Desillusionierung in der Bevölkerung schüren, um Wählerstimmen zu gewinnen, und gewählten Funktionären, die beim Ringen mit den Schwierigkeiten unserer modernen demokratischen Gesellschaften verzweifelt an alten, simplifizierenden Modellen festhalten. Deshalb ist es wichtiger denn je, dass die BürgerInnen aktiv werden, um sicherzustellen, dass sich Politiker für Gleichheit, Freiheit und Würde stark machen.
Wenn wir uns heute den Zustand öffentlicher Diskurse und politischer Debatten in Europa anschauen, gibt es in der Tat vielfachen Grund zur Sorge. Menschenrechtsorganisationen wie unsere erleben, wie die von der Antirassismusbewegung und der LGBTI-Bewegung errungenen Fortschritte von einer konservativen Flut in sehr kurzer Zeit zum Stillstand gebracht werden. Diese beschränkt sich nicht nur auf die traditionell extreme Rechte, sondern wird weitgehend vom gesamten politischen Spektrum geteilt.
In den letzten zehn Jahren hat ein eigentümlicher kultureller Rassismus unter dem Deckmantel der Menschenrechte in die gesellschaftliche Debatte Einzug gehalten, insbesondere der Ruf nach uneingeschränkter Meinungsfreiheit und Geschlechtergleichstellung, mit dem kaum verborgenen Untertitel “Islam”, womit impliziert wird, dass Muslime gegen Meinungsfreiheit und Geschlechtergleichstellung sind. Diese Verrücktheit nach uneingeschränkter Meinungsfreiheit geht jedoch weit über eine reine Religionskritik hinaus: Hetzreden und Gewalt gegen Roma nehmen stetig zu. Das Gleiche gilt für Afrophobie-, Antisemitismus- und Antimigrationsdiskurse, -aktivitäten und manchmal sogar -politiken. Offenbar haben wir es mit einem zunehmenden Aufbrechen der Übereinstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun, dass rassistische Reden und Gewalt keinen Platz in wahrhaft demokratischen Gesellschaften haben.
Wenn es um die Menschenrechte von Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans- und intersexuellen Personen geht, könnte man annehmen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis alle europäischen Länder die Gleichstellung von LGBTI vollständig gesellschaftlich anerkannt haben. Aber der glühende Widerstand gegen das französische Gesetz zur Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft oder das Ja beim kroatischen Referendum zum Verfassungsverbot der gleichgeschlechtlichen Ehe im Jahre 2013 lassen uns daran zweifeln, dass der Weg zur Gleichstellung von LGBTI gradlinig sein wird. Insbesondere da wir miterleben, wie sich Gruppen herausbilden, die - unter dem Deckmantel des Schutzes von Werten, Familie und Traditionen – die Gleichstellung von LGBTI und Frauen und letztlich die Gleichstellung insgesamt mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen unmittelbar ablehnen. Kurz gesagt, stehen sämtliche Bewegungen, die entscheidend zum Fortschritt in der Gleichstellung in allen sozialen Schichten, für alle Menschen in Europa, beigetragen haben, vor einer immer dicker werdenden Wand von Missachtung und Zurückweisung, die stark genug ist, um unsere Forderungen als ‘übergeschnappte politische Korrektheit’ abzutun und die nicht davor zurückschrecken, Diskriminierung für gute Geschäfte zu unterstützen.
Ist es also denkbar, dass die vermutete “Fortschrittlichkeit” unserer westlichen Gesellschaften, die mit Werten wie Menschenrechte und Menschenwürde für alle durchzogen sind, einfach nur eine dünne Lackschicht ist? Waren wir zu selbstgefällig in der Annahme, dass die Pächter des demokratischen Lebens fest in unseren Gesellschaften verankert sind? Oder waren wir zu naiv und haben verkannt, dass sich diejenigen, die schon lange an der Macht sind, durch unsere komplexen und heterogenen europäischen Gesellschaften bedroht fühlen? Die Antwort ist nicht einfach. Eine Sache aber ist klar: Wir bezahlen jetzt dafür, dass es progressive Entscheidungsträger in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft haben, eine Vision zu skizzieren, wie man in demokratischen und vielfältigen Gesellschaften in Würde miteinander auskommt.
30 Jahre Widerwillen und Resignation auf Seiten progressiver Politiker lassen sich nicht von einem Moment auf den nächsten überwinden. Irgendwo müssen wir aber ansetzen. In Zeiten wachsender sozialer und politischer Polarisierung europäischer Gesellschaften ist es wichtiger denn je, soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde und Gleichstellung ins Zentrum politischer Debatten zu stellen und oben auf die Tagesordnung zu setzen.
Deshalb haben wir - ILGA-Europe und ENAR - uns zusammengetan, um eine uneingeschränkte Gleichstellungsagenda im Europawahlkampf zu vertreten. Die wichtigsten demokratischen, europäischen Parteien haben unsere Forderung unterstützt, keine homosexuellenfeindliche oder ausländerfeindliche Sprache im Wahlkampf zu verwenden. Zudem unterstützen zahlreiche Kandidaten unsere Forderung nach verstärktem Einsatz der EU für mehr Gleichstellung in den nächsten fünf Jahren. Es ist die Politik der kleinen Schritte, die auf dem direkten Engagement der in Europa lebenden Menschen und auf gegenseitiger Solidarität aufbaut. Denn wir glauben fest daran, dass sich die Flut nur eindämmen lässt durch gesteigerten bürgerschaftlichen Aktionismus und durch Gruppen wie unsere, die für eine alternative Gesellschaftsvision eintreten - für die Vision eines Europas der Gerechtigkeit, Gleichstellung und Würde für alle.
Mehr zur Kampagne unter: www.ilga-europe.org und www.enar-eu.org
Video: #NoHateEP2014