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Herausforderung für die Pflegepolitik: "Bezahlt oder unbezahlt"

Ältere Frau setzt zwei Brillen auf
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The current care policy represents the principle of ‘private care instead of care in an institution’.


Care ist überall – auch in der Ökonomie

„Sorgearbeit ist überall – nur nicht in der Ökonomie.“ So lautet ein zentraler Satz der Einführung zu diesem Dossier. Jedoch stimmt er für wesentliche Teile von Sorgearbeit nicht mehr, erkennbar auch an neuen Begriffen wie „Care-Ökonomie“, mit denen durchaus versucht wurde, die bereits vorhandene Verbindung zwischen Care und „Effizienz, Nutzen und Prozessmaximierung, Produktivität“ nachvollziehbar zu machen. Spätestens seit der Einführung der Pflegeversicherung, die bewusst auch auf die wirtschaftliche Erbringung von Pflegeleistungen setzte, sind Teile von „Care“ aus dem Bereich der ökonomisch nicht erfassten Erbringung im Haushalt oder in anderweitig zwischenmenschlich motivierten Beziehungen in den Bereich der Volkswirtschaft gelangt. Ist der Träger privatwirtschaftlich verfasst, kommt automatisch die Gewinnmaximierung hinzu.

Diese Verschiebung von Care-Leistungen spielt auch bei der öffentlichen Daseinsvorsorge und im Gesundheitswesen, in der Erziehung und Bildung eine Rolle. Weitgehend umgesetzt sind betriebswirtschaftliche Konzepte beispielsweise mit der Privatisierung von Krankenhäusern. Dass Gesundheitsdienste und Pflege privatwirtschaftlich erbracht werden können, ist vor etlichen Jahren entschieden worden, so dass Einrichtungen privatisiert und der öffentliche Sektor reduziert wurde. Für Erziehung und Bildung ist die Privatisierung ebenfalls in Gange, wenn auch nicht in gleichem Maße.

Konkurrenz-Aspekte bezahlter und unbezahlter Arbeit

Nicht erfasst im Begriff der Care-Ökonomie ist der Bereich, der bis jetzt in der Zuständigkeit der Familie/des Haushaltes verblieben ist oder dem Ehrenamt zugeordnet wird. Hier werden oft die Care-Bestandteile zugeordnet, die sich einer rationalisierten Arbeits-Abfolge entziehen, so wie persönliche Zuwendung und Beziehung. Aus dieser Trennung resultieren dann auch einige der bekannten Probleme, wie z.B. die „Minutenpflege“, nicht bezahlte Belastungen ambulanter PflegerInnen, insbesondere wenn eine Familie nicht (mehr) heranzuziehen ist, oder der zwingende Rückgriff auf das „Ehrenamt“ in stationären Einrichtungen. Aus dieser Trennung resultiert auch, dass Teile der Care-Arbeit als „unbezahlbar“ gelten, was sich negativ auf die Arbeitsbewertung von Care-Berufen auswirkt, indem nur die direkt ökonomisch bewertbaren Leistungen auch bezahlt werden.

Auch über diese Anteile hat die Pflegepolitik entschieden, obwohl in der öffentlichen Darstellung stets der Wille der Pflegebedürftigen („lieber zu Hause gepflegt werden“) in den Vordergrund gestellt wird. So vertritt die Pflegeversicherung im doppelten Sinne den Grundsatz „privat vor stationär“ und hat sich der „Stärkung der häuslichen Pflege“ verschrieben, wobei für die Altenpflege beides gemeint ist: unentgeltliche Erbringung durch Angehörige (Subsidiarität) und bezahlte ambulante Pflegedienste vor der stationären Unterbringung.

Nur die bezahlten Leistungen werden von der (Care-)Ökonomie in Zahlen erfasst. Die Tochter, Ehefrau, Nachbarin, die eine Pflegeleistung (auch eine, die bezahlt erbracht werden könnte) unbezahlt erbringt, zählt hingegen nicht zur Ökonomie. Selbst ihre „Entlohnung“ mit Pflegegeld erhöht das Brutto-Inlands-Produkt (BIP) nicht, denn diese Transferleistung ist eine Sozialausgabe, die als „öffentlicher Konsum“ das BIP senkt. Die bezahlte Pflegedienstleistung hingegen erhöht das BIP, geht über den Lohn in das Volkseinkommen ein.

Die Ausweitung bezahlter Pflegedienste führt also zu Wirtschaftswachstum. Sie würde zur Stärkung der Binnennachfrage beitragen und die Erwerbsmöglichkeiten von Frauen verbessern, einmal durch ein zusätzliches Arbeitsplatzangebot und zum anderen durch die Entlastung von Frauen von der häuslichen Pflege. Dies sollte nach Auffassung der ver.di-Frauen auch eine ernstgenommene Zielrichtung von Pflegepolitik sein, indem die Politik mit darüber entscheidet, wie hoch der Anteil von „Care“ in der „Care-Ökonomie“ ist.

Auf der anderen Seite dieses Szenarios steht das bundesdeutsche Ehe- und Familienleitbild, welches immer noch davon ausgeht, dass in der Familie (mindestens) eine ökonomisch und sozial „versorgte“ Person vorhanden ist, die andere Familienmitglieder versorgt, betreut, erzieht, pflegt – und zwar unbezahlt, entweder direkt in der eigenen Familie oder als ehrenamtlich Tätige im sozialen Bereich. Diese Konstellation wird gesetzlich gestützt, z.B. durch das Ehegattensplitting, die Familienmitversicherung und die Hinterbliebenenversorgung.

Hinzu kommt, dass sich viele Pflegebedürftige, da die Pflegeversicherung nur eine Teilleistungs-Versicherung ist, eine ordentlich bezahlte Pflege in ihrer häuslichen Umgebung finanziell nicht erlauben können. Andere sind nicht bereit dazu – die „versorgte“ Tochter kann das ja unbezahlt erbringen – warum also? Diese Umstände sind Teil des bundesdeutschen Pflegeszenarios und begründen den Grundsatz „privat vor stationär“ auch im familienpolitischen Sinne, indem die Zuschreibung der Pflegeverantwortung an die Familie und insbesondere an die weiblichen Familienmitglieder auf verschiedenen Wegen auch gesetzlich transportiert wird.

Die bei der Pflegekassenreform 2005 propagierte „Stärkung der häuslichen Pflege“ zielte aufgrund der erkannten finanziellen Probleme deshalb zunächst darauf ab, die Anteile der unbezahlten, aber mit einem leicht erhöhten Pflegegeld entgoltenen, häuslichen Pflege zu erhöhen und die Transferleistungen für bezahlte Pflegedienste entsprechend einzuschränken. Auch auf die berechtigten Einwände von Frauen- und Wohlfahrtsverbänden hin wurde dann jedoch eine Entscheidung zugunsten der Beitragserhöhung getroffen, so dass die Finanzierungsbasis wieder für einige Jahre fortgeschrieben und der Anteil der Care-Ökonomie ausgeweitet werden konnte. Die steigenden Ausgaben der Pflegekasse waren dabei in erster Linie auf steigende Zahlen von Pflegebedürftigen zurück zu führen (s. Pflegestatistik 2007).

Professionelle Pflege steht also mit der unbezahlt erbrachten Pflege in Konkurrenz – bezüglich der Löhne, der Beschäftigungsbedingungen und der sozialen Sicherung der LeistungserbringerInnen. Auch deshalb ist die von Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften seit langem und von der Bundesregierung seit einiger Zeit propagierte „Aufwertung“ von sozialen und personenbezogenen Diensten so schwierig, so dass Politik und Teile der gesellschaftlichen Debatte den Weg der „gesellschaftlichen Anerkennung“ gehen, die auch ohne Bezahlung möglich ist, aber nicht ausreicht.

Ein Merkmal ist, dass die bezahlte Pflege finanziell unter Druck steht. Konkurrenzfähigkeit muss nicht nur gegenüber der Pflegekasse hergestellt werden, sondern auch gegenüber der Familie mit Pflegeverantwortung, was naturgemäß in die Preisfindung und in Pflegesätze und Löhne eingeht. Im Sinne der Kostensenkung für die Pflegekasse kann das sinnvoll sein. Für Beschäftigte ist die resultierende niedrige und niedrigste Bezahlung allerdings eine der Leistung nicht angemessene Folge, die die finanzielle Aufwertung des Altenpflegeberufes in weite Ferne gerückt. Dass dies ein nicht gewünschtes Begleit-Problem darstellt, wurde kürzlich mit der Festsetzung eines Pflege-Mindestlohnes bestätigt.

Will man eine tatsächliche Aufwertung von sozialen und personenbezogenen Diensten erreichen, so genügt es keinesfalls, die gesellschaftliche Anerkennung für Pflegeleistende zu erhöhen, denn es geht um leistungsgerechte Bezahlung. Diese ist abhängig von Verhandlungen. Verantwortlich sind also die zuständigen Ministerien bei der Festlegung der Pflegesätze, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaft in Bezug auf Stundenlöhne und Arbeitsbedingungen, konkrete Arbeitgeber bei Einstufung und Beschäftigungsbedingungen und nicht zuletzt die pflegeverantwortliche Familie bei der Preisfindung der privaten Finanzierung für nicht in der Pflegeversicherung abgedeckte Leistungen.

Dass dieser Markt ein ganz besonderer ist, bei dem Pflegebedürftige und deren verantwortliche Angehörigen in der Regel in einer Zwangslage sind, hat indessen ebenso zu einer gewissen staatlichen Regulierung geführt, wie die notwendige Finanz- und Kostenkontrolle gegenüber der Pflegekasse und den Trägern. Allerdings arbeiten (nach Auffassung der Verfasserin) auch diese Entscheider ganz bewusst mit der oben beschriebenen „Unbezahlbarkeit“ der häuslichen Pflege und halten so Pflegesätze und Löhne niedrig. Dass hier insbesondere die geschlechtsspezifische gesellschaftliche Arbeitsteilung eine Voraussetzung ist, sollte der Politik jedoch zusätzlich gleichstellungspolitischen Stoff liefern, um die Anteile der bezahlt erbrachten Pflege zu erweitern.

Eine wichtige Frage ist: Wann ist Arbeit „ehrenamtlich“?

In der Pflege ist sie dann ehrenamtlich, wenn sie nicht entlohnt und nicht von einer/m Angehörigen erbracht wird. Auch im Zuge der Pflegekassenreform 2005 war von der Ausweitung des bürgerschaftlichen Engagements die Rede. Es wurden sogar Regelungen getroffen, um die ehrenamtliche Erbringung von Care-Bestandteilen zu fördern.

Das Ehrenamt wird in Heimen und ambulanten Diensten oft begrüßt, denn die inzwischen weitgehend rationalisierte Erbringung von Pflege lässt nur selten Zuwendung zu, führt oft dazu, dass Regelleistungen nur soweit erbracht werden können, wie sie sich in die zeitlichen Vorgaben fügen. Sie schließt persönliche Wünsche der Pflegebedürftigen vielfach aus. Wer also macht es dann? Beschäftigte in der Pflege fühlen sich daher von ehrenamtlich Tätigen eher ent- als belastet. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen der zu bezahlenden Pflegeleistung und dem Ehrenamt schwierig: Was ist zusätzlich? Was erfordert eine Fachausbildung? Welche Tätigkeit muss eigentlich als Regelleistung erbracht werden? Darf die Vorleserin auch Getränke und Essen verabreichen oder mit der pflegebedürftigen Person zur Toilette gehen? Besser nicht so genau hinschauen, ist da oft genug die Devise. So werden die Grenzen fließend.

Problematisch wird das Ehrenamt aus gewerkschaftlicher Sicht erst recht, wenn eine Trennung nicht herbeigeführt wird, so dass Arbeitsplätze abgebaut und Löhne vorenthalten werden oder Leistungen abgerechnet, aber nicht professionell erbracht werden. Sozialverbände sprechen gelegentlich von „Goldgruben“, wenn sie bei ihren (wiederum ehrenamtlichen) Besuchsdiensten feststellen, dass solche Praktiken vorliegen und die Pflegebedürftigen dennoch nicht ausreichend zu trinken bekommen, die „Beladung“ von Windeln (aus dem Werbetext eines Herstellers) unzumutbar geworden ist oder sonstige Missstände vorliegen.

Eine genaue Abgrenzung zwischen bezahlter Pflege und Ehrenamt wird oft auch bei der Bezahlung nicht vorgenommen. So werden unter anderem zur Umgehung von Sozialversicherungsbeiträgen Pflegebeschäftigte mit einem 400 €-Minijob offiziell beschäftigt und – vom selben Arbeitgeber – für weitere Tätigkeiten mit einer Ehrenamts- oder Übungsleiterpauschale „belohnt“. Damit sind insgesamt bis zu 575 € Monatsverdienst erzielbar, während die Beschäftigten dennoch keinen eigenständigen Zugang zur Sozialversicherung haben. Auch dieses Modell basiert auf der „Versorgung“ in der Familie.

Wie erreichen wir, dass (mehr) bezahlte Care-Arbeit angeboten wird?

Aufgabe für die Politik ist es, künftig Dienstleistungspolitik und Frauen- und Gleichstellungspolitik zu verknüpfen. Ein Ansatzpunkt dafür ist, die beschriebenen Rahmenbedingungen in der Gesetzgebung (hier: Definitionen in der Pflegeversicherung) zu verändern und das familienpolitische Leitbild auf Eigenständigkeit von Frauen auszurichten. Insbesondere sind die konkreten Beschäftigungspolitiken der Branche in den Fokus zu nehmen, womit auch die Pflegequalität verbessert werden kann. In Bezug auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung muss eine neue Position zur Abgrenzung zu Ehrenamt und Familienarbeit getroffen werden: Was ist Familienarbeit? Was ist Ehrenamt? Was ist bezahlte Arbeit? Wo ist die Grenze? Für die Pflege muss dies auch fachspezifisch professionell definiert werden, um die vielfach fehlende Pflegequalität zu gewährleisten.

Es geht politisch also darum, Teile der bisher unbezahlten Leistungen in den Bereich der öffentlichen und gewerblich erbrachten Daseinsvorsorge zu verschieben. So würden Wachstumsimpulse gesetzt, die Infrastruktur für Familien und Qualitätsstandards erheblich verbessert und neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen. Gleichzeitig würden die Erwerbsmöglichkeiten für Frauen weiter erhöht und die Vereinbarkeit für Männer und Frauen verbessert. Dabei können die skandinavischen Länder als Vorbild dienen, das ist bekannt. Diese „Investition in die Zukunft“ ist aber nicht zum „Nulltarif“ zu haben sondern erfordert Investitionen und die politische Bereitschaft, dem BIP mit einer gezielten gesetzlichen Umsteuerung zu binnenwirtschaftlichem Wachstum zu verhelfen.