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Gleichstellungsprojekt Europa? - Einleitung

Banner zur Konferenz "Gleichstellungsprojekt Europa?" des Gunda-Werner-Instituts vom 21.-22.März 2014

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

(Artikel 1a des Vertrags von Lissabon, 2007)[1]

 

Die Europäische Union gründet auf eine Reihe von Werten, darunter auch jenen der Gleichheit und fördert die Gleichstellung von Frauen und Männern. Die Gleichheit zwischen den Geschlechtern wird eigens in der Grundrechte-Charta der EU nochmals betont (Artikel 23). Obwohl die Europäische Union häufig v.a. als Wirtschaftsgemeinschaft wahrgenommen wird, ist sie zuallererst eine Wertegemeinschaft. Dies zeigt auch der Artikel 2 des Vertrags von Lissabon: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“

Auf welche Weise setzt die EU den Wert der Gleichstellung der Geschlechter durch? Welche Schritte wurden bisher in welchen Bereichen unternommen und wie erfolgreich waren sie? Welche Herausforderungen in der emanzipativen Gleichstellungspolitik stehen für die nächsten Jahre an? Welcher Gegenwind ist zu befürchten? Dies sind nur einige Fragen, die in diesem Webdossier behandelt werden sollen.

Angesichts der Europawahlen im Mai 2014 ziehen wir in diesem Webdossier Bilanz über das „Gleichstellungsprojekt Europa?“. Mithilfe von Expert_innen aus dem Feld der Wissenschaft, der Politik oder der Zivilgesellschaft zeigen wir Problematiken und Ansatzpunkte zur Veränderung auf. Es werden möglichst viele Stimmen aus den EU-Mitgliedsländern zu Wort kommen, die ihre Erfahrungen und Ideen zur EU-Politikgestaltung schildern. Im Zentrum steht die Rolle der EU als gleichstellungs- und geschlechterpolitische Akteurin. 

Die ausgewählten geschlechterpolitischen Themenfelder umfassen sechs Bereiche und umreißen die wichtigsten Herausforderungen der europäischen Gleichstellungspolitik. Es sind dies:

  1. Wirtschaftliche Unabhängigkeit zwischen den Geschlechtern
  1. Gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungsprozessen
  1. Bekämpfung geschlechtsbezogener Gewalt und Menschenhandel
  1. Integration, Migration und Asylpolitik aus Genderperspektive
  1. Intersektionalität und Bekämpfung von (Mehrfach-)Diskriminierung                                                                          
  1. Gleichstellungspolitik ausserhalb der EU

 

In der Folge wird jeder Themenbereich kurz umrissen, gemeinsam mit den dazu gehörigen Beirtägen im Webdossier.

Wirtschaftliche Unabhängigkeit zwischen den Geschlechtern

Dieser Bereich ist der umfassendste und ein zentrales Anliegen der EU. Bereits 1957 ist beispielsweise der Grundsatz der Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern in den EU-Verträgen verankert worden. Nichtsdestotrotz gibt es die sogenannte Geschlechter-Lohnlücke („Gender Pay Gap“) immer noch; und die Europäische Kommission hat einen „Tag für gleiches Entgelt“ („Equal Pay Day“) eingeführt um vermehrt auf die Lohnungleichheit aufmerksam zu machen. Die Ursachen des geschlechtsspezifischen Lohngefälles sind vielfältig. Besonders bedeutsam ist jedoch, dass immer noch zumeist Frauen den Großteil der unbezahlten Arbeit im Haushalt und in der Familie übernehmen. Zum einen stellt die Lohnlücke selbst einen Fehlanreiz für das Erwerbsleben von Frauen dar, zum anderen führen längere (häufig familienbedingte) Erwerbsunterbrechungen wiederum zu mehr Lohnungleichheit. Damit ist die Lohnungleichheit einerseits Folge von bestimmten Rollenvorstellungen und andererseits festigt sie wiederum eine geschlechterhierarchische Verantwortungsteilung in Partner_innenschaften.

Frauen fehlen auf höheren Stufen der Karriereleiter in besser bezahlten Berufen und in bestimmten Branchen (vertikale und horizontale Segregation). Lohnungleichheit und schlechtes Einkommen sind wiederum Grundlagen für eine mögliche Armutsgefährdung im Alter, die vor allem Frauen trifft.

Um eine wirtschaftliche Unabhängigkeit zwischen den Geschlechtern zu erreichen, ist eine Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt Voraussetzung. Dazu müssen u.a. die Segregation am Arbeitsmarkt verringert, Maßnahmen für eine Armutsvermeidung und gegen einen sozialen Ausschluss ergriffen, sowie der „Gender Pay Gap“ abgebaut werden. Eine weitere wichtige Grundlage bilden Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Beruf, Privates und Familienleben erleichtern, wie beispielsweise flexible Arbeitsmarktregelungen und umfangreiche Unterstützungsstrukturen für die  Betreuung  von Kindern oder Pflegedürftigen.

Außerdem hat sich die EU verpflichtet bei all ihren Tätigkeiten, die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. Dieses Konzept ist auch als „Gender Mainstreaming“ bekannt, muss als Querschnittsaufgabe gesehen werden und sollte sich dementsprechend durch alle EU-Politiken ziehen.

Gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungsprozessen

Eine unausgewogene Teilhabe von Frauen und Männer an Entscheidungsprozessen ist ein weiterer Punkt der Ungleichheit. Dass Frauen in Positionen mit Entscheidungsmacht unterrepräsentiert sind, ist ein Problem für die Demokratie und die Grundrechte. Obwohl es immer mehr gut ausgebildete Frauen gibt, findet man sie kaum in Leitungspositionen in der Politik, der öffentlichen Verwaltung, in Unternehmen, bei den Medien, in Universitäten oder Gewerkschaften. D.h. es braucht Maßnahmen (wie beispielsweise die Quote), die den Frauenanteil in Führungspositionen insbesondere in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik erhöhen.

Bekämpfung geschlechtsbezogener Gewalt und Menschenhandel

Gewalt gegen Frauen gibt es in allen sozialen Schichten und in allen europäischen Ländern. Für die Europäische Kommission stellt dies eine wesentliche Hürde bei der Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter dar. Studien sprechen davon, dass eine Frau von vier in Europa bereits Opfer geschlechtsbezogener Gewalt geworden ist. Mit „geschlechtsbezogener Gewalt“ sind die  vielfältigen Formen der Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie z.T. auch Männer und Jungen gemeint. Häuslicher ‚Missbrauch‘ (besser bezeichnet als sexualisierte Gewalt), Stalking und Vergewaltigung gehören genauso dazu, wie sexuelle Nötigung und Belästigung oder weibliche Genitalverstümmelung (FGM), aber auch Körperverletzung durch Beschneidung bei Jungen. Die unterschiedlichen EU-Institutionen sind sich darin einig, dass es Strategien zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen braucht. Das Europäische Parlament hat sich in den letzten fünf Jahren besonders für das Thema eingesetzt, wie der Vorsitzende des Ausschusses für Frauenrechte und Gleichstellung der Geschlechter (FEMM) im Europäischen Parlament, Mikael Gustafsson im Interview mit GWI betont.

Der Menschenhandel stellt eine grundlegende Verletzung von Menschenrechten dar. Mit alarmierenden Zahlen wird ein Bild eines der lukrativsten Geschäfte weltweit, das den Drogenhandel überholt hat, gezeichnet. Es werden schnelle Aktionen gegen den Menschenhandel gefordert und damit häufig eine restriktivere Politik in Bezug auf irreguläre Migration oder Prostitution gerechtfertigt. Eine strengere Einwanderungspolitik oder abolitionistische Gesetze wiederum helfen jedoch den von Menschenhandel Betroffenen nicht. Ein Teufelskreis, aus dem wir nur mit differenzierten Sichtweisen und dem Fokus auf die Stärkung der Menschenrechte der Ausgebeuteten, herauskommen. Die Europäische Union hat die Prävention und Bekämpfung dieses Phänomens in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt und setzt vor allem auf eine engere Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen den Polizei- und Justizbehörden der Mitgliedstaaten.   Im Zentrum sollte die Stärkung und das „Empowerment“ der ausgebeuteten Menschen stehen. Welche Herausforderungen gibt es in den nächsten fünf Jahren in der Politik zur Bekämpfung des Menschenhandels? Wie können die einzelnen EU-Institutionen das Thema effektiver bearbeiten? Wie ist die Zusammenarbeit mit den Mitgliedsländern? Welche Verbindungen gibt es zur europäischen Einwanderungspolitik? Dies sind nur einige Fragen, die im Webdossier behandelt werden sollen.

Integration, Migration und Asylpolitik aus Genderperspektive

Trotz der Vorgabe des Gender Mainstreaming, fehlt häufig eine Genderperspektive in den Politiken zur Integration, zur Migration und zum Asyl. Integrationsansätze legen zumeist den Schwerpunkt auf die Arbeitsintegration und behandeln das Thema Integration außerhalb des Arbeitsmarktes nicht. Einige Einwanderungspolitiken arbeiten immer noch mit einem geschlechtsneutralen Ansatz, der einen indirekt diskriminierenden Einfluss auf Frauen, wie beispielsweise ausgebildete Migrantinnen haben kann. Außerdem wird geschlechtsbezogene Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen in den Mitgliedsländern der EU unterschiedlich gehandhabt. Das derzeitige Dublin II System ist  problematisch, indem es die Asylsuchenden zwingt, im ersten Ankunftsland den Asylantrag zu stellen. Daher braucht es Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitiken für ethnische Minderheiten, Migrantinnen und Flüchtlinge, sowie eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Asylpolitik die eine Genderperspektive mit einbeziehen und z.B. geschlechtsspezifische Asylgründe anerkennen. Dies stellt eine der wichtigsten Herausforderungen für die nächsten Jahre dar.

Intersektionalität und Bekämpfung von (Mehrfach-)Diskriminierung

Verschiedene Formen der Diskriminierung von Frauen rühren von Geschlechterstereotypen, die immer noch weit verbreitet sind. Stereotypen stellen Hürden für eine gelebte Gleichheit zwischen den Geschlechtern dar. Daher ist es so wichtig, schon früh mit Aufklärungsarbeit zu beginnen, um  stereotype Rollenbilder zu hinterfragen bzw. Geschlechterstereotypen in der Ausbildung, der Bildung, dem Arbeitsmarkt oder den Medien abzubauen.

Genauso bedeutsam ist es, Diskriminierung zu bekämpfen, insbesondere Mehrfach-diskriminierungen. Geschlecht stellt nur eines von mehreren Diskriminierungsmerkmalen dar, neben ‚Rasse‘ und ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. So sind bestimmte Gruppen von Frauen und Männern eher Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt als andere, wie beispielsweise Lesben, Schwule, Transgender oder Personen von ethnischen Minderheiten, Migrant_innen usw. Der Begriff „Intersektionalität“ beschreibt die Verwobenheit verschiedener Diskriminierungsformen in einer Person.

Die große Mehrheit der Mitgliedstaaten hat Rechtsvorschriften erlassen, die ausdrücklich unmittelbare und mittelbare Diskriminierung und Belästigung verbieten. Allerdings fehlen Maßnahmen, die Mehrfachdiskriminierung direkt adressieren.                                                                          

Gleichstellungspolitik außerhalb der EU

Fortschritte bei Frauenrechten und der Gleichstellung der Geschlechter gilt als eine Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung von Gesellschaften. Dies kann u.a. dazu beitragen, Konflikte vorzubeugen. Daher ist es ein wichtiges Anliegen der EU, Partnerschaften mit nicht-europäischen Ländern zu schließen und diese Themen zu fördern. Eine Genderperspektive in den Außenbeziehungen der EU ist dabei genauso bedeutsam, wie bei der Europäischen Nachbarschaftspolitik, bei Euromed (Union für den Mittelmeerraum) oder den Vereinten Nationen. Es gibt Aktionspläne zur Gleichstellung in der Entwicklungszusammenarbeit und die Aufforderung Frauen in allen Phasen des Friedensprozesses mit einzubeziehen. Eine erfolgreiche Implementierung diverser UN-Resolutionen diesbezüglich gehört dazu, insbesondere der Resolution 1325 (2000).

Die EU hat in den letzten Jahrzehnten bei der Gleichstellung der Geschlechter Fortschritte gemacht, doch es gibt noch viele Herausforderungen. Die nächsten Europawahlen werden zeigen, ob das „Gleichstellungsprojekt Europa“ fortgesetzt und verbessert werden kann oder ob die meist konservativen oder rechtspopulistisch bis rechtsextremen Kräfte, die sich gegen eine emanzipative Gleichstellungspolitik wenden, Überhand gewinnen werden.