Stellen wir uns vor: Frauen* würden für gleiche Arbeit den gleichen Lohn wie Männer erhalten.
Frauen* wären gleichberechtigt beteiligt an politischen Prozessen und Entscheidungen.
Täter*innen geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt würden konsequent verfolgt und zur Rechenschaft gezogen.
Frauen* und Mädchen wären nicht mehr überproportional von Hunger, Armut und Vertreibung betroffen und würden nicht mehr das Gros der unbezahlten Care-Arbeit verrichten.
Dann wäre vieles erreicht, was vor 25 Jahren bei der 4. Weltfrauenkonferenz und in der Pekinger Aktionsplattform (Beijing Platform for Action - BPfA) als Ziele festgelegt wurden: gleiche Macht für Frauen, ein Leben mit weniger Gewalt und mehr Gerechtigkeit.
Gleiche Macht für Frauen, ein Leben mit weniger Gewalt und mehr Gerechtigkeit sind die Ziele, die vor 25 Jahren bei der 4. Weltfrauenkonferenz und in der Pekinger Aktionsplattform festgelegt wurden.
Peking +25: Bisher ist die Geschlechtergerechtigkeit noch nirgendwo erreicht.Auch wenn 143 Länder die Gleichstellung von Mann und Frau in ihren Verfassungen verankert haben, ist Geschlechtergerechtigkeit noch nirgendwo erreicht. Der Global Gender Gap Report 2020 des World Economic Forum sagt voraus, dass es beim jetzigen Tempo noch 99,5 Jahre dauert, bis wir Geschlechtergerechtigkeit erreicht haben.
Frauen* haben sich ihre Rechte immer erstreiten müssen. Das ist heute immer noch so. Und alles, was vor 25 Jahren im Dokument der Pekinger Aktionsplattform stand, ist auch heute - noch zu fordern.
Was hier heute brauchen sind Paritätsgesetze genauso sowie die Entkriminalisierung von Abtreibung überall auf der Welt. Die gesellschaftliche Diskriminierung, brutale Repression und Kriminalisierung von LGBTIQ Personen muss ein Ende nehmen. Von gleicher politischer Teilhabe über gleiche Bezahlung und Zugang zu Bildung, bis hin zum konsequenten Schutz vor Gewalt: wir sind noch weit entfernt von einer geschlechtergerechten Welt für Frauen* und Mädchen. Für all das braucht es gesellschaftliche Initiativen und politischen Willen.
Und es sind ganz neue Herausforderungen dazu gekommen: Es geht z.B. um den Umgang mit neuen Reproduktions- und Gentechnologien, die neue ethische Fragen zum Recht auf Selbstbestimmung stellen. Oder um die Digitalisierung, die neue Formen von Gewalt im Netz hervorgebracht hat und vor 25 Jahren noch kein Thema war.
Schwer wiegt auch die Tatsache, dass das bereits Erkämpfte heute massiv von nationalistischen, ultrakonservativen, religiös-fundamentalistischen, rechtsextremen und rechtspopulistischen Akteur*innen auf der ganzen Welt infrage gestellt und bekämpft wird.
Die gute Nachricht ist, dass wir gleichzeitig eine regelrechte Mobilisierungswelle von und durch Frauen* erleben, die sich dem entgegenstellen. Sie stehen an der Spitze vieler Proteste für Demokratie und Menschenrechte im Sudan, im Irak, in Chile. Sie bilden der Kern der Proteste gegen Trump in den USA. Und mit der Zuspitzung der Klima- und Ressourcenkrise sind es vor allem junge Frauen*, die sich bei Fridays for Future oder Extinction Rebellion engagieren und selbstbewusst medial vertreten sind. Frauen* gehen mehr denn je wieder auf die Straßen, organisieren und engagieren sich, arbeiten on- und offline und machen Druck auf Regierungen, versuchen nicht nur ihre eigenen Rechte zu realisieren, sondern insgesamt die gesellschaftlichen und politischen Realitäten für alle zu verändern.
Die neuen Bewegungen sind heterogener, vielfältiger und gleichzeitig global sichtbarer als frühere feministische Bewegungen. Pussy Hats in den USA, Margeriten in Brasilien, Grüne Tücher in Chile, Fahrräder im Sudan – so vielfältig ihre Symbole, so vielfältig sind auch die Erfahrungen, Forderungen und Kämpfe der verschiedenen feministischen Bewegungen, die sich und ihren Anliegen auf der ganzen Welt Gehör verschaffen.
Ein Vierteljahrhundert nach der Verabschiedung der Pekinger Aktionsplattform stellt sich also die Frage, ob es überhaupt noch aktuell, sinnvoll und zeitgemäß ist, an ihrem Forderungskatalog festzuhalten und dessen Umsetzung einzufordern. Müsste das Dokument nicht radikal überarbeitet und ergänzt werden? Wem würde dies nützen?
Ein Meilenstein in der internationalen Frauenpolitik
Die Pekinger Aktionsplattform von 1995 ist und bleibt ein Meilenstein für die internationale Frauenpolitik. Sie hat den Anspruch, dass Frauen*rechte und gleiche Teilhabe von Frauen* Menschenrechte sind und in nationale Gesetzgebungen übersetzt werden. Damit haben Regierungen einen globalen Konsens zu wichtigen Gleichstellungsfragen hergestellt.
Es wurden nationale, regionale und globale Foren geschaffen, die die Umsetzung der Pekinger Deklaration nachhalten sollen, allen voran die UN-Frauenrechtskommission (Commission on the Status of Women - CSW).
Die diesjährige UN-Frauenrechtskonvention in New York wurde gerade wegen der Corona-Epidemie abgesagt. Sie wollte sich ausführlich und öffentlich mit vielen Veranstaltungen und Events mit dem Erreichten und dem Unvollendeten der Pekinger Plattform auseinandersetzen. Eine politische Erklärung liegt vor.
Neben der Antidiskriminierungskonvention CEDAW (1979) und der UN-Resolution 1325 (2000) bildet die Pekinger Aktionsplattform so den wichtigsten multilateralen Bezugsrahmen, mit deren Hilfe Frauen*- und Menschenrechte eingefordert werden können. Weltweit nutzen Frauen* Abkommen, Konventionen und Resolutionen der UN als Referenz, stellen Öffentlichkeit zum Stand der Umsetzung her, ziehen Regierungen, wo immer (noch) möglich zur Rechenschaft. Damit wurde einiges erreicht: 131 Staaten haben Gleichstellungspolitiken institutionalisiert oder Antidiskriminierungsgesetze erlassen. Mehr als 2/3 der Staaten haben heute Gesetze gegen häusliche Gewalt. Mehr Mädchen als je zuvor gehen weltweit zur Schule, die weltweite Müttersterblichkeitsrate ist um 38% gefallen. Diese Fortschritte, wie sie in Gesetzen und Institutionen weltweit festgeschrieben wurden, sind auch Errungenschaften, die Frauen* sich erkämpfen konnten mit der Pekinger Aktionsplattform als Referenzpunkt. Die Pekinger Aktionsplattform stellt eine internationale Norm dar, hinter der wir nicht zurückfallen dürfen.
Gleichzeitig können wir festhalten, dass – Peking +25 - ein solches Dokument, ein solch globaler Konsens zu Frauen*rechten heute nicht mehr möglich wäre. Zu mächtig vertreten wären die Antifeministen am inter-staatlichen Verhandlungstisch, zu stark ist die Gegenbewegung gegen feministische Stimmen und Bewegungen, die sie mundtot macht, diffamiert und bekämpft.
Über Gender Mainstreaming hinaus
Bei allen Errungenschaften ist die Pekinger Aktionsplattform aber auch kritikwürdig In Peking 1995 wurde Gender Mainstreaming als Strategie in dem internationalen Abkommen verankert. Damit war und ist gemeint, dass alle Mitgliedstaaten sich dazu verpflichten, politisches Handeln und Gesetzesvorhaben geschlechterdifferenziert zu betrachten, d.h. die verschiedenen Auswirkungen ihrer Politiken auf Frauen* und Männer zu analysieren. Damit sollten bestehende strukturelle Hierarchien und Diskriminierungen abgebaut werden. Zu Gender Mainstreaming gibt es vielfältige Kritik und Widerstände von links und rechts - gegen das Verfahren, aber auch gegen die Umsetzung. Umstritten ist u.a., ob Mainstreaming nicht eine Anpassung an gesellschaftliche und sozioökonomisch bedingte Geschlechterverhältnisse heißt und damit Stereotype eher zementiert, anstatt sie zu überwinden. Zudem, so die aktuellere Kritik, führen sie wieder zurück zu den Kategorien "Mann" und "Frau", die es geschlechterpolitisch gerade aufzulösen gilt.
Radikal gedacht und weiterzuentwickeln wäre allerdings die in der Pekinger Aktionsplattform angelegte Idee, institutionelles, unternehmenspolitisches und politisches Handeln - also alle Politikfelder und Gesetze - im Hinblick auf ihre Wirkungen auf Geschlechterverhältnisse und auf alle Formen von Diskriminierung und Ausschluss zu durchleuchten. Diesen in Peking angelegten Ansatz scheuen so gut wie alle Institutionen, Organisationen, Unternehmen und Regierungen. Nach wie vor findet sich ein geschlechterdifferenzierter Ansatz eben nicht in allen Politikfeldern. Es ist also kein Wunder, dass die Vielschichtigkeit der Ursachen, die Macht-Ungleichheit, die Diskriminierung und Gewalt konstituieren, politisch als irrelevant erklärt oder wieder in das Silo der Frauenpolitik gesperrt wird.
So unvollständig, kritikwürdig und in Teilen nicht aktuell die Pekinger Aktionsplattform ist – als multilateraler Referenzrahmen taugt sie auch heute noch. Sie ist zwar keine Brandmauer gegen Repression und Gewalt, gegen Ausschluss und Unterdrückung, aber immerhin - auch mit den globalen Foren - ein Bezugspunkt, der Regierungen immer noch öffentlich und hie und da zur Rechenschaft ziehen kann. Derzeit würde es keinerlei Sinn machen, das Dokument in internationalen Verhandlungen an die neuen Herausforderungen anzupassen. Das käme der institutionalisierten Revision der Errungenschaften von 1995 im UN-System gleich.
Wie kann also ein Weg vorwärts aussehen, der die Pekinger Aktionsplattform mit ihren Prinzipien erhält, sie aber radikal weiterentwickelt, um neue Perspektiven und um neue feministische Kämpfe? Und das in einem weltweit zunehmend antifeministischen Kontext?
Intersektionalität – von Kreuzungen und neuen Wegen
Die feministische Gegenwehr thematisiert heute mehr denn je den Zusammenhang zwischen Rassismus, Sexismus, Klassizismus und gesellschaftlicher Marginalisierung, als dies noch im Kontext der Weltfrauenkonferenzen der Fall war.
Denn: Frauen* haben sehr unterschiedlichen Zugang zu Rechten, politischer Teilhabe, zu Bildung oder Gesundheit. „Frau*sein“ ist nicht der einzige Grund, warum sie marginalisiert oder ausgeschlossen werden. Frauen* erleben aufgrund verschiedener Identitäten, bspw. als Arbeiterin, als Women* of Colour, als LGBTIQ*-Person, als religiöse Minderheit, als alte Frau*, als Indigene, Mehrfachdiskriminierungen. Diese verschiedenen Perspektiven und Betroffenheiten sind heute viel präsenter im öffentlichen Bewusstsein und viele organisieren ihre Interessen politisch anders als noch vor 25 Jahren. Ich glaube, dass sie auch eine Antwort sind:
Intersektionalität - der Begriff und das Konzept, das die Verwobenheit und die Zusammenhänge verschiedener Diskriminierungen beschreibt, war zwar vor 25 Jahre schon in der Welt, diese Sichtweise hat aber in offizielle Dokumente, wie der Pekinger Aktionsplattform, keinen Eingang gefunden. Die sozialen und strukturellen Differenzierungen zwischen Frauen*, zwischen Frauen* auf den verschiedenen Kontinenten, zwischen Frauen* mit verschiedenen historischen Erfahrungen (Kolonialismus, Militarismus, Kriege, Sklaverei) müssen sich auf politische Antworten gegen Ungleichheit und Diskriminierung auswirken. Die meisten Abkommen erkennen diese Intersektionalität und die sozialen, politischen und ökonomischen Differenzierungen bislang nicht an. In der internationalen Zivilgesellschaft, v.a. außerhalb Europas, ist Intersektionalität aber heute Grundlage für feministische Strategien zur Überwindung von Machtungleichheit und Diskriminierungen.
Generation Equality - Never turning back
UN Women mobilisiert im 25. Jahr nach Peking unter dem Motto „Generation Equality“ und will die internationale Öffentlichkeit mit Publikationen und verschiedenen Foren, u.a. in Mexiko und in Paris nutzen, um aufzuklären und vor allem junge Frauen* für den Kampf um Geschlechtergerechtigkeitgewinnen. Der Schulterschluss und Brückenschlag mit jungen Frauen* wird allerdings nur gelingen, wenn Equality nicht ausschließlich als ökonomische und politische Teilhabe weißer Frauen verstanden wird. Gleichstellungspolitiken und ihre Institutionalisierung reichen bei weitem nicht. Intersektionale Perspektiven müssen sich in politischem Handeln niederschlagen. Und Ausschluss, Ungleichheit, Ausbeutung und Diskriminierungen finden auch zwischen Frauen* statt. Gerade im Diskurs um weibliche Selbstbestimmung geht es auch oft um neue Formen der Beherrschung und Hegemonie (siehe auch Christa Wichterich).
Vielfalt, Differenzen und Differenzierungen prägen heute die feministischen Bewegungen weltweit. Sie in den Blick zu nehmen, die Kämpfe von People of Colour und der heterogenen feministischen Bewegungen auf der ganzen Welt sichtbar zu machen und sie in den feministischen Strategien zu reflektieren, ist unsere Aufgabe, wenn internationale Vernetzung wieder einen höheren Stellenwert in der feministischen Politik bekommen soll. Mehr denn je gilt es überall auf der Welt neue Formen von Solidarität zu entwickeln als Antwort auf den Rollback und als Strategie zu einer geschlechtergerechten Welt.
In der Vielfalt und Heterogenität der globalen feministischen Landschaft mit ihrer wunderbaren Mobilisierungskraft liegt die Chance und einzige Option, dem weltweiten reaktionären, rechtsextremistischen und antifeministischen Backlash die Stirn zu bieten.
Die Pekinger Aktionsplattform ist dabei ja kein Hindernis. Denn hinter ihren Anspruch, dass Frauen*rechte Menschenrechte sind, dürfen wir nicht zurückfallen. Im Sinne des Mottos von Peking 1995: Never turning back.